Der Bund: „Erdbebengefahr für AKW bleibt im Dunkeln“

Erdbebengefahr fuer AKW bleibt im Dunkeln

„Der Bund“ berichtet im Artikel „Erdbebengefahr für AKW bleibt im Dunkeln“ über die neueste Verzögerung bei der Neubestimmung der Erdbebengefährdung für AKW (Artikel von Simon Thönen):

Seit 1999, seit 16 Jahren also, versucht die schweizerische Atomaufsicht, die Stärke möglicher Erdbeben an den AKW-Standorten zu bestimmen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass die AKW entsprechend nachgerüstet werden können – sodass die Gefahr, dass Erdbeben einen AKW-Unfall auslösen, nicht grösser ist als das berühmte Restrisiko von 1 zu 10’000.

Das ENSI hatte nach unzähligen Verschiebungen in der „PEGASOS“ Unendlichen Geschichte  angekündigt, auf Ende 2015 endlich die Ergebnisse bekannt zu geben. Stattdessen erschien beim ENSI gestern erneut eine Vertröstung:

Doch wer erwartete, dass die Aufsichtsbehörde damit auch bekannt gibt, welche Erdbebenwerte jetzt für die AKW gelten, sieht sich getäuscht. Zuerst dürfen sich nun die AKW-Betreiber im Rahmen eines «rechtlichen Gehörs» bis Anfang Februar zu den Erdbebenwerten äussern. Erst danach wird das Ensi die Verfügung erlassen – und erst dann wird die Aufsichtsbehörde die Öffentlichkeit informieren.

Das ENSI führt also eine rechtliche Anhörung bei den AKW-Betreibern durch, bevor es die Gefährdungsannahmen festlegt. Das lässt aufhorchen. Die Gefährdungsannahmen sind gesetzlich klar geregelte Anforderungen an die Sicherheit. Es ist nicht einzusehen, inwiefern die Betreiber hier „mitreden“ sollen oder dürfen. Zudem sollte das ENSI eigentlich „selbstständig und unabhängig“ agieren. So fordert es jedenfalls das Gesetz:

5. Abschnitt: Unabhängigkeit und Aufsicht
Art. 18
1 Das ENSI übt seine Aufsichtstätigkeit selbstständig und unabhängig aus.

Und so fordern es die internationalen Regelwerke und völkerrechtlichen Übereinkommen:

 Art. 8 Staatliche Stelle

[…]

(2)  Jede Vertragspartei trifft die geeigneten Massnahmen, um eine wirksame Trennung der Aufgaben der staatlichen Stelle von denjenigen anderer Stellen oder Organisationen, die mit der Förderung oder Nutzung von Kernenergie befasst sind, zu gewährleisten.

Zurück zum Artikel:

«Komplett intransparent» ist dieses Vorgehen für den Berner AKW-Kritiker Markus Kühni. «Es ist zu befürchten, dass sich Aufsicht und AKW-Betreiber abgeschirmt von der Öffentlichkeit absprechen», sagt Kühni. Ensi-Sprecher Sebastian Hueber weist dies auf Anfrage zurück: «Wir verhandeln nicht über Sicherheit.» Das «rechtliche Gehör» sei ein fester Bestandteil des Verfahrens. Das Ensi beruft sich dabei auf das Verwaltungsverfahrensgesetz. Allerdings steht im Gesetz auch, dass keine Anhörung im Voraus nötig ist, wenn eine Verfügung vor Gericht angefochten werden kann. Dies ist hier der Fall: Die AKW-Betreiber können die Verfügung zu Erdbeben anfechten, falls sie damit nicht einverstanden sind.

Es ist für die Wahrung der Rechte also nicht nötig, eine solche „Vorvernehmlassung“ durchzuführen. Aber wenn man sie schon vornehmen will, muss das rechtlich Gehör allen sogenannten „Stakeholdern“ gewährt werden, etwa auch den Anwohnern, denn sie sind bei einer Verfügung ebenfalls Partei. Das Bundesgericht hat uns als gefährdete Anwohner der AKW sogar bei Aufsichtshandlungen des ENSI (sog. Realakten) den Rechtsweg zugesprochen, somit gilt dies umso mehr bei formellen Verfügungen. Indem mit den AKW-Betreibern einseitig vorab eine geheime Absprache stattfindet, wird diese Partei (einmal mehr) bevorteilt.

Dass das Ensi nur den AKW-Betreibern das rechtliche Gehör gewährt, lasse sich schlecht mit der Unabhängigkeit der Aufsicht vereinbaren, findet Kritiker Kühni. «Wenn schon, muss das Ensi auch den Anwohnern von AKW und interessierten Organisationen das rechtliche Gehör gewähren.» Kühni beruft sich darauf, dass auch die internationale Atomenergieorganisation IAEA einen breiten Einbezug aller interessierten Betroffenen bei nuklearen Entscheiden empfiehlt.

Es sei auf die IAEA-Publikation „Stakeholder Involvement Throughout the Life Cycle of Nuclear Facilities“ verwiesen. Aber auch die Aarhus-Konvention fordert diesen Einbezug gesetzlich und völkerrechtlich verpflichtend:

4.  Jede Vertragspartei sorgt für eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Optionen noch offen sind und eine effektive Öffentlichkeitsbeteiligung stattfinden kann.

Das ENSI sieht freilich lediglich einen Anspruch der AKW-Betreiber:

Das Ensi entgegnet, es führe das rechtliche Gehör «bei den direkt betroffenen Adressaten der Verfügung durch. Im Fall der Erdbebengefährdung handelt es sich um die Betreiber der Kernkraftwerke in der Schweiz.»

Einmal mehr wird die merkwürdige Sichtweise des ENSI dokumentiert: „im Fall der Erdbebengefährdung“ ist aus meiner Sicht in erster Linie die Bevölkerung betroffen. Das AKW kann ein Naturereignis—wie in Fukushima gesehen—verschlimmern, die Nothilfe danach erschweren, und vor allem die Schadensfolgen für Jahrhunderte verlängern. Das AKW ist in der Schuld, Vorsorge zu treffen, während die Anwohner Anspruch auf Schutz haben. Es ist doch klar, wer hier eher Anrecht auf rechtliches Gehör haben sollte.

Für Kühni ist dies «angesichts der Folgen eines AKW-Unfalls nicht nachvollziehbar». Er fordert, «dass das Ensi wenigstens nach dem Erlass der Verfügung die Entscheidgrundlagen offenlegt». So alle Expertenberichte zu Erdbeben und auch den Entwurf der Verfügung, den das Ensi nun den Betreibern vorlegt. Ob das Ensi dies tun wird, sagt Sprecher Hueber auf Anfrage nicht. Stattdessen betont er: «Wir werden die Öffentlichkeit zeitnah über den Inhalt informieren, wenn die Verfügung erlassen ist.»

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