Der Bund: „Explosionsgefahr ungenügend geprüft“

Der Bund - Explosionsgefahr ungenuegend geprueft

Im Artikel „Explosionsgefahr ungenügend geprüft“ schreibt Der Bund über die neuesten Stellungnahmen des ENSI. Von Simon Thönen.

Die Fernsehbilder von den explodierenden Reaktoren in Fukushima haben sich im März 2011 einem weltweiten Publikum eingeprägt.

In der Tat: diese Bilder muss man sich immer wieder vor Augen führen. Sie zeigen in unmissverständlicher Art, welche unkontrollierbaren Kräfte bei der Nukleartechnologie im Spiel sind.

Fukushima Explosion BildreiheStandbilder: NTV Japan.

Es stellte sich unweigerlich die Frage: kann so etwas auch in den Schweizer AKW passieren?  Der Bund Artikel rollt auf, wie die Bevölkerung beruhigt wurde:

Für die Schweiz gab das Eidgenössische Nuklearsicherheits­inspektorat (Ensi) knapp ein Jahr später bezüglich der Explosionsgefahr Entwarnung.

Das ENSI verfasste damals die folgende Mitteilung:

Schwerpunktinspektion zeigt: Gefilterte Druckentlastung ist in Schweizer KKW gewährleistet

Messerscharf stellte es darin fest, dass diese Explosionen auf die sogenannte Containment-Druckentlastung (Venting) zurückzuführen seien.

Probleme mit dem Venting-System führten in Fukushima zu Explosionen

In Fukushima kam es im März 2011 in drei beschädigten Reaktoren zu Komplikationen wegen der nicht funktionierenden Druckentlastung. […]

Aufgrund dieser Erkenntnisse, die im Fukushima-Bericht III „Lessons Learned“ ausführlich beschrieben sind, hat das ENSI im November und Dezember 2011 Schwerpunktinspektionen in sämtlichen Schweizer Kernkraftwerken durchgeführt.

Was hat diese Schwerpunktinspektion damals ergeben?

Schwerpunktinspektion in der Schweiz weist sicheren Betrieb aus

[…] Die Antwort auf diese Fragen fällt für Georg Schwarz mehrheitlich positiv aus: „Die Ergebnisse unserer Schwerpunktinspektionen zeigen, dass die Schweizer Kraftwerke die grundlegenden ENSI-Vorgaben zur gefilterten Druckentlastung einhalten.“

Bei den detaillierten Resultaten kam das AKW Mühleberg gut weg. Nur im Bereich der Filterchemie—so wurde es jedenfalls damals dargestellt—waren noch Fragen offen.

Bei der Frage der Erdbebenfestigkeit wurde das KKM explizit nicht genannt:

Die Stresstest-Untersuchungen haben gezeigt, dass die Venting-Systeme in den Kernkraftwerken Gösgen und Leibstadt eine geringere Erdbebenfestigkeit aufweisen als die zugehörigen Containments. Das ENSI hat deshalb die beiden Werke am 10. Januar 2012 mit Verfügungen verpflichtet, die Erdbebenfestigkeit des Venting-Systems zu überprüfen […].

Entwarnung kann nicht nachvollzogen werden

Wer das AKW Mühleberg kennt, kommt hier ins Stutzen. Ich habe damals einen Brief ans ENSI geschrieben:

Die Containment-Druckentlastung des KKM führt vom äusseren Torus durch einen Schacht an der Aussenwand des Reaktorgebäudes bis auf +8m, dann über die sogenannte „Transportbrücke“ zum Aufbereitungsgebäude und schliesslich über eine weitere Brücke vom Dach des Aufbereitungsgebäudes zum Hochkamin.

Aufbereitungsgebäude KKM

Das eigentliche Problem:

Zentraler Grund dieses Briefes ist die Tatsache, dass das KKM das Aufbereitungsgebäude in der Periodischen Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) 2000 nicht mehr für das damalige SSE qualifizieren konnte und deshalb eine Rückklassierung in die Erdbebenklasse II vornehmen musste. […]

Es sei erwähnt, dass damals Erdstösse bis 0.15g für das SSE angenommen wurden. Gemäss heutigem Wissenstand zur Erdbebengefährdung muss mit rund dem Doppelten gerechnet werden.

Das AKW Mühleberg musste also im Jahr 2000 eingestehen, dass das Aufbereitungsgebäude nicht einmal das alte Auslegungserdbeben von 1977 verkraften könnte, geschweige denn die deutlich höhere, neu bestimmte Erdbebengefährdung. Daher ist natürlich auch der Abgaskanal der Containment-Druckentlastung offiziell nicht erdbebensicher. Und dazu muss man sich noch vor Augen führen, dass dieses System eigentlich für einen sogenannt auslegungsüberschreitenden Störfall mit Kernschaden vorgesehen ist. Ein Kernschaden entsteht jedoch gemäss offiziellen Analysen am wahrscheinlichsten durch ein noch stärkeres Erdbeben.

Die Entwarnung durch das ENSI konnte also nicht einmal ansatzweise nachvollzogen werden. Der Bund Artikel weist auch auf ähnliche Vorbehalte der KNS hin (die meinen Brief auch erhalten hatte):

Dieser Befund sei verfrüht, bemängelte damals nicht nur der Mühleberg-Kritiker Markus Kühni, sondern auch die offizielle Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit (KNS).

Unbequeme Fragen gestellt

In der Folge hat Greenpeace mit der Frage beim ENSI nachgehakt:

28. Frage von Greenpeace an das ENSI: „Bleibt das ENSI auch bezüglich des AKW Mühleberg im Erdbebenfall bei seiner Aussage „Gefilterte Druckentlastung ist in Schweizer KKW gewährleistet”?“

Antwort des ENSI: Für das Containment-Druckentlastungssystem mit dem äusseren Torus ist eine ausreichende Erdbebenfestigkeit nachgewiesen. Hinsichtlich der Luftführungskanäle zum Kamin ist ein Versagen nach einem Sicherheitserdbeben („Intermediate PRP“-Gefährdung) zu unterstellen, dass nach Auffassung des ENSI jedoch die Funktion der gefilterten Containment-Druckentlastung nicht in Frage stellt. Bei der Auslegung des Systems wurde eine Gefährdung durch Wasserstoff berücksichtigt und Zündquellen im Abluftpfad vom äusseren Torus zum Kamin eliminiert. […]

Die Antwort ist schon in sich widersprüchlich. Wie kann man Zündquellen eliminieren, wenn die Luftführungskanäle versagen? Seit vorgestern wissen wir, dass das ENSI seine Äusserungen selber nicht glaubt. In seiner Verfügung vom 22.4.2013 (erst vorgestern veröffentlicht) forderte es ein volles Jahr nach meinem Brief:

2.4. Die Auslegung des gesamten Containmentdruckentlastungspfads bis zur Abgabe an die Umgebung ist zu überprüfen. Dabei sind die Erdbebenfestigkeiten (gemäss der aktuellen Erdbebengefährdung) der verschiedenen Komponenten und Leitungen zu beachten.

Wer nun meint, „besser spät als nie“, kennt die Nuklearbranche nicht. Folgendes schreibt das ENSI in seiner aktuellen Stellungnahme vom 9. Januar 2015, also fast drei Jahre nach meinem Brief:

Die seismische Auslegung der Containmentdruckentlastung ist Gegenstand des ERSIM-Projekts. Das ENSI wird sich in Rahmen dieses Projekts dazu äussern und geht an dieser Stelle nicht weiter darauf ein.

Für mich ist klar: was man nicht nachweisen kann, wird ganz einfach immer und immer wieder verschoben. Ohne Scham, auch fast vier Jahre nach der Katastrophe aus welcher man eigentlich ganz direkt etwas hätte lernen können.

Am Technischen Forum Kernkraftwerke (TFK) wurde die Frage noch ausführlicher gestellt (siehe Kapitel 3 im Fragendokument). Am Forum versuchte die BKW das Problem dann auf die einfachste Art loszuwerden: das Aufbereitungsgebäude sei eben doch erdbebenfest genug. Da die seismischen Untersuchungen ja noch laufen (und laufen und laufen), braucht das niemand zu belegen.

Wunschdenkszenarien und (keine) Wasserstoffexplosionen

Das Thema Erdbebenfestigkeit wird also weiter verschleppt. Aber auch zum Thema Wasserstoff-Explosionen habe ich damals diverse Fragen gestellt (siehe Brief, Fragen 6-8). Hier zeigen die neu veröffentlichten Dokumente auf, wie das ENSI zu seiner frühen Entwarnung kommen konnte. In der Verfügung vom 22.4.2013 übt es an den bisherigen Analysen (und damit an seiner Aufsichtspraxis) deutliche Kritik:

Die Analysen zu den Auswirkungen von Wasserstoffverbrennungen basieren auf Modellen, bei denen Wasserstoffgemische bei vordefinierten Konzentrationen zünden. Damit erfolgt die Zündung jeweils bevor eine detonationsfähige Wasserstoffkonzentration erreicht wird.

Das ist schier unglaublich! Wir sprechen von Nuklearer Sicherheit und die Verantwortlichen verwenden schamlos intelligenzbeleidigende Wunschdenkszenarien. Und in diesem Stil geht es weiter:

Ferner wird nicht berücksichtigt, dass lokal allenfalls deutlich höhere Wasserstoffkonzentrationen auftreten können als bei einer kompletten Durchmischung.

Die Schweizer AKW wurden also erstmals im April 2013 aufgefordert, realistische Analysen zu Wasserstoffexplosionen vorzunehmen. Dazu mussten sie im November 2013 einen Zwischenbericht einreichen und per Juni 2014 den Schlussbericht. Die Stellungnahme des ENSI folgte am 9. Januar 2015. Man könnte doch wirklich annahmen, dass fast zwei Jahre nach der Verfügung und drei Jahre nach der vorweggenommenen Entwarnung zur „Schwerpunktinspektion“ alles geklärt ist.

Zurück zum Bund-Artikel:

In seiner Stellungnahme wirft das Ensi der BKW eine ganze Reihe von Fehlern vor. So habe die BKW in ihrem Bericht die Summe des Wasserstoffs, der aus möglichen Lecks entweichen könnte, nicht richtig zusammengezählt. Zudem gehe sie fälschlicherweise davon aus, dass Wasserstoff sich gleichmässig im Raum verteilen würde – und keine gefährlichen Konzentrationen bildet.

Pikant ist: Sogar den «Versagensdruck des Reaktorgebäudes» hat die BKW laut Ensi «nicht korrekt» angegeben – sondern um mehr als das Anderthalbfache zu hoch. Und dies, obwohl die Atom­aufsicht schon vor einem Jahr in anderem Zusammenhang eine Korrektur angemahnt hatte. Vor allem aber: «Unfallbedingte Zustände im Containment/­Reaktorgebäude blieben unberücksichtigt», und zwar auch das laut Ensi wahrscheinlichste Gefahrenszenario, dass Wasserstoff über die Dichtung des Containment-Deckels entweichen könnte.

Hierzu kurz die Originaltexte. Das Plus-Rechnen scheint nicht die Stärke des KKM zu sein:

Die aufsummierten Leckagen an den Durchdringungen am Drywell ergeben einen Anteil von rund 85 % der Gesamtleckage. Die verbleibenden rund 15 % werden nicht behandelt Werden die Leckagen über verschiedene Bereiche aufsummiert, so resultieren abweichende Anteile verglichen mit denen, welche in der Berechnung verwendet wurden.

Die rechnerische „Verdünnung“ des Wasserstoffs bis zur Ungefährlichkeit ist immer noch ein Thema:

Der Einfluss der Temperatur auf die Gasverteilung wird nicht berücksichtigt. Die Experimente zur Untersuchung der thermischen Schichtung auf die Wasserstoffverteilung am Battelle Modell Containment zeigen, dass eine höhere Temperatur im oberen Bereich dazu führen kann, dass die Wasserstoffkonzentration im unteren Bereich höher ist als im oberen Bereich, es also zu einer Wasserstoffschichtung kommen kann /8/.

Die Widerstandskraft von Gebäuden wird offenbar „nach Bedarf“ den Anforderungen angepasst und zwar renitent:

Ferner wird bei diesen Analysen von einem Versagensdruck des Reaktorgebäudes von 3 bis 4 bar ausgegangen. Dies ist gemäss /9/ nicht korrekt, wonach dieser Versagensdruck zwischen 1,88 und 2,23 bar liegt Eine entsprechende Neuanalyse hat das ENSI bereits im Rahmen der Stellungnahme zur PSÜ KKM gefordert /10/.

Das wahrscheinlichste Störfallszenario mit Freisetzung von Wasserstoff ins Reaktorgebäude wurde gar nicht angeschaut:

Unfallbedingte Zustände im Containment/Reaktorgebäude bleiben unberücksichtigt, insbesondere auf den gemäss der bestehenden Analyse zur Tragfähigkeit des Containments dominanten Versagensmodus des Drywells (Flanschleckage am Drywelldeckel) wird nicht eingegangen.

Trotz unhaltbarer Nachweise – ENSI gewährt weitere Fristen

Einmal mehr wird ein Systemfehler in der Nuklearen Aufsicht offensichtlich. Ein Betreiber kann Nachrüstungen ganz einfach dadurch aussitzen, dass er immer wieder ungenügende (oder geänderte) Eingaben einreicht (das funktionierte übrigens auch bei der Forderung zur Nachrüstung einer diversitären Wärmesenke prima so).

Das Ensi hat der BKW nun eine neue Frist bis Ende Juni gesetzt, um eine korrekte Analyse vorzulegen und Vorschläge für Nachrüstungen einzureichen. «Die BKW kann einen ungenügenden Bericht nach dem anderen einreichen», kritisiert Mühleberg-Gegner Kühni: «Das Ensi 
tadelt, setzt aber trotzdem immer neue Fristen. Nachrüstungen kann man offenbar aussitzen.»

Fukushima Daiichi Unit 3 - (c) Air Photo Service Co. Ltd., Japan 2
Bild: Fukushima Daiichi Unit 3, Air Photo Service Co. Ltd. Japan

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