Die radioaktiven Emissionen der Atomkraftwerke: ein zermürbender Kampf um Transparenz

Gastbeitrag von Marco Bähler


Kritische Journalisten und Organisationen versuchen dem Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ) auch in der Atomwirtschaft Respekt zu verschaffen — und die Atomaufsicht ENSI reagiert. Sie erklärte letzten Herbst, sie wolle zukünftig „gebündelt und in geeigneter Form“ Emissionsdaten auf ihrer Webseite publizieren. Weil die Öffentlichkeit Transparenz darüber verlangt, welche radioaktiven Abfälle im Normalbetrieb und bei Störfällen via Hochkamin und Abwasserleitung „entsorgt“ werden. Das Atomkraftwerk Leibstadt hat gegen dieses Vorhaben des ENSI beim Bundesverwaltungsgericht BVGer Einsprache erhoben.

Im letzten Sommer musste das ENSI befürchten, durch ein Grundsatzurteil des BVGer zur Veröffentlichung von Emissionsdaten gezwungen zu werden und machte „freiwillig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ einige Daten zugänglich. So konnte es die Gerichtsverhandlung verhindern; und das Geschäft wurde abgeschrieben. Nun ist von dieser freiwilligen Offenheit nichts mehr übrig: das ENSI schickt Einsichtsgesuche zur Stellungnahme an die Kernkraftwerke und gibt diesen die Möglichkeit, die Einsicht zu verzögern oder zu verhindern. Das absurde Argument: Emissionsdaten seien Personendaten und die betroffenen juristischen Personen (die Atomkraftwerkbetreiber) hätten eventuell ein Recht auf Schutz ihrer Daten.

Andererseits profiliert sich die Atomaufsicht, indem sie seit dem 2. März 2015 – mit einer Verzögerung von fünf Wochen – Dateien mit den monatlichen Emissionen der Atomkraftwerke ins Netz stellt. [1]

In diesen Dateien fehlt jedoch der radioaktive Kohlenstoff C14

Kohlenstoff C14 (Halbwertszeit 5730 Jahre) wird von allen Atomkraftwerken – mit tausenden von Kubikmetern Luft pro Minute verdünnt – durch den Hochkamin abgeblasen und unterliegt keiner Abgabelimite.

Auch radioaktiver Wasserstoff (H3, Tritium, Halbwertszeit 12.3 Jahre) wird in jedem AKW freigesetzt, oft in grossen Mengen während der Revision. Tritium macht den grössten Teil der radioaktiven Emissionen jedes Atomkraftwerkes aus.

In vornuklearen Zeiten wurde die Aktivität des Tritiums im Wasser in Tritium-Units TU angegeben: 1TU = 0.12 Becquerel (Bq) pro Liter Wasser (1Becquerel = 1 zerfallender Kern pro Sekunde). In der Schweiz gilt Wasser mit weniger als 600’000 Bq H3 pro Liter als „nicht radioaktiv“ im Sinne des Gesetzes, ein Säuglings-Getränk darf bis zu 3000 Bq Tritium per Liter enthalten… wer wünschte sich solche Gesetze?

Wie kommt das?

Die ausserordentlich kleine Zerfallsenergie der biologisch zentralen Elemente Kohlenstoff und Wasserstoff kann nur mit grossem Aufwand gemessen werden, da beim Zerfall nur sehr schwache Betastrahlen entstehen und überhaupt keine Gammastrahlen. Die amtlichen Messstationen im Umkreis der Atomkraftwerke MADUK können aus diesem Grund C14 und H3 nicht wahrnehmen. Die Anreicherung dieser radioaktiven Isotope von Kohlenstoff und Wasserstoff in der Natur (Nahrung) kann nur in spezialisierten Laboratorien nachgewiesen werden.

Problematisch ist an C14 und H3 weniger die Strahlung, sondern dass diese instabilen Elemente im Erbgut aller Lebewesen eingebaut werden. Beim Zerfall zu einem nicht vorhersehbaren Zeitpunkt verwandeln sie sich in Stickstoff bzw. Helium und machen die chemisch codierten Informationen unbrauchbar.

Die klassische Sichtweise der Strahlenschützer sieht hingegen vor allem die Gefahren der beim Kernzerfall abgestrahlten Energie. Wie ein Mantra wird immer wieder vorgerechnet, die durch Emissionen erzeugten Dosen seien zu klein um Schäden hervorzurufen. Es gibt aber auch Fachpersonen welche die beobachtbaren Gesundheitsschäden in der Umgebung von Atomanlagen ernst nehmen und Erklärungen anbieten. [2]

Skorpionsfliege, Cornelia Hesse-Honegger, Aquarell, 1988

Skorpionsfliege aus Reuenthal nahe des  Atomkraftwerks Leibstadt. Beide Flügel auf der rechten Seite sind deformiert und das Abdomen hat verschobene Segmente. Aquarell, Cornelia Hesse-Honegger, Zürich 1988. Publiziert mit freundlicher Erlaubnis.

Es wird immer schwieriger davonzukommen“ (F Dürrenmatt)

Die radiologische Hauptbelastung der Lebewesen in der Nähe der Atomkraftwerke wird vor allem durch die Emissionen von C14 verursacht.

Schon früh wurde C14 von Fachleuten als ein problematisches Abfallprodukt der Atomindustrie erkannt, welches man später wahrscheinlich stärker werde regulieren müssen.

Hier eine Sammlung von Zitaten, Jahrzehnte umspannend:

Because the Half- Life of C14 is 5730 years, the dose from C14 introduced into the environment will be delivered for many generations. A reason for concern is that it will enter the pool of biological carbon and may be incorporated into the molecules of which the genes are formed. In addition to the calculable mutations from ionization produced by the C14 dose, a possible additional source of mutations may be the transmutation of the carbon within the genetic material itself. [3]

 

Die vorliegenden Daten über Bildungsraten und ökologisches Verhalten zeigen klar, dass auf lange Sicht Kohlenstoff-14 als eines der kritischen Nuklide der friedlichen Atomenergienutzung zu betrachten ist. [4]

 

The matter of the potential accumulation of carbon 14 from nuclear power plants is being studied by the EPA. It is possible that a limit will be set…, just as it has for Krypton 85. [5]

 

…its long half live, high environmental mobility, and ability to enter the food chain mean that it delivers one of the highest collective effective dose equivalents to the global population, hence the level of interest in its measurement in the environment. [6]

 

Lediglich bei Tritium und C14 werden Rückhalteverfahren nicht eingesetzt bzw. von den Aufsichtsbehörden bisher nicht gefordert… Die sehr tiefen Emissionen moderner Kernkraftwerke sind auf eine fortlaufende technische und betriebliche Optimierung zurückzuführen. Einzig bei den C14-Emissionen über die Abluft sowie bei den Tritium-Emissionen wurden solche Massnahmen bisher nicht als sinnvoll erachtet und daher auch von der Genehmigungsbehörde nicht gefordert… C14 trägt zu über 90% zu der luftgetragenen radioaktiven Belastung der Bevölkerung im näheren Umkreis der KKW bei. [7]

Eine Frage im Nationalrat

In der Herbstsession des Nationalrates wurde von Martina Munz die Frage gestellt, warum die Freisetzung radioaktiven Kohlenstoffes nicht limitiert ist, und warum er in den vom ENSI publizierten Monatsbilanzen nicht erwähnt wird. [8]

Der Bundesrat antwortet

Er erklärt, dass die Emissionen von C14 durch die Reaktorleistung bedingt seien, und deshalb keiner Limitierung bedürfen; auch ändere sich die Produktion über die Jahre hinweg nicht. Die Emissionen seien auch viel zu klein – so wird vorgerechnet – um gesundheitliche Folgen zu bewirken.

Nun sind jedoch Emissionsspitzen bei Revisionen in die Aufmerksamkeit von Ärzten und Epidemiologen gerückt. In einem mit Hilfe des BGÖ erstrittenen Monatsrapport des KKG finden sich für die Revision 2011 Abgaben an C14 welche eine Grössenordnung über anderen Monaten liegen. Eine angeblich stabile Produktionsrate ist also nicht gleichzusetzen mit einer stabilen Emissionsrate!

Das Abgabereglement der Kernkraftwerke verlange keine monatliche Messung des C14, führt der Bundesrat aus und verweist auf das öffentlich einsehbare Messnetz MADUK, welches die Atomkraftwerke überwacht. Aber die MADUK-Sensoren sind für reine Betastrahler wie C14 komplett blind!

Weiter der Bundesrat:

Die Kernkraftwerke messen jedoch aus Eigeninitiative das C-14 und erstatten mindestens jährlich Bericht.

C14 wird zwar von allen Betreibern gemessen aber in den Monatsrapporten von Mühleberg und Beznau nicht ausgewiesen.

Wie eingangs erwähnt, publiziert das ENSI Monatsbilanzen der Abgaben via Wasser und Luft, in denen C14 ebenfalls nicht vorkommt. [1] Das ENSI gibt als Quelle dieser Bilanzen an: „Berichterstattung der Kernanlagen gemäss Richtlinie ENSI-B02. Ist für ein Nuklid kein Wert angegeben, wurde es in der ausgewiesenen Periode nicht nachgewiesen.“ Die Richtlinie B02 definiert unter Punkt 8 was der Monatsbericht enthalten muss:

8.3.g: Angaben über die Abgaben radioaktiver Stoffe im Berichtsmonat gemäss Anhang 5

und dort ist C14 mit aufgeführt. Die Betreiber von Beznau und Mühleberg müssen sich offenbar nicht an die Richtlinie B02 halten…

Darum ist die an sich zu begrüssende – aber unvollständige – Publikation von Monatsemissionen zusammen mit dem falschen Hinweis auf MADUK eine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit und es befremdet, dass der Bundesrat dies nicht durchschaut. Gibt er einfach (wie auch schon[9]) die Antwort des ENSI weiter?

Die Interpellation 15.3655 wurde im Rat noch nicht diskutiert.

PS: C14 könnte mit einfachen Massnahmen aus dem Abgasstrom abgetrennt werden. [4]

 


Weiterführende Informationen [Hinzugefügt 27.2.2016]:


[1] „Abgaben radoaktiver Stoffe“, ensi.ch

[2] „A hypothesis to explain childhood cancers near nuclear power plants“, Ian Fairlie 2014

[3] „Environmental Radioactivity“, Merril Eisenbud 1973 (He was an adviser on radiation hazards to the World Health Organization from 1956 to 1980, and a past member of the National Council on Radiation Protection and Measurements, and the New York State Health Advisory Council.)

[4] „C-14: Radiologische Umweltbelastung durch Kernkraftwerke“, Eidg. Institut für Reaktorforschung, Burkart 1977

[5] „Nuclear Power and Its Environmental Effects“, American Nuclear Society, 1980

[6] „Handbook of Radioactivity Analysis“, Michael L’Annunziata, Elsevier 2012

[7] „Zur Dosisrelevanz der einzelnen Expositionspfade bei Emissionen aus Kernkraftwerken“

[8] Radioaktives C14 fehlt in den vom Ensi veröffentlichten Monatsbilanzen der AKW, Interpellation 15.3655

[9] Tagesanzeiger: „Neuer Zwist um Sicherheit bei Atomkraftwerken“

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