Greenpeace: „Keine Lizenz zur Willkür für das ENSI!“

AKW-Aufsicht verweigert Bürgern rechtliche Klärung von Sicherheitsfrage

Zürich/Bern, 7.11.2012. Nach mehreren Monaten Bedenkzeit hat die Atomaufsichtsbehörde ENSI besorgten Bürgern mitgeteilt, sie trete nicht auf ihr Gesuch ein. Anwohner des AKW Mühleberg hatten den Hochwassernachweis des ENSI kritisiert und verlangt, es müsse diesen nach geltenden Vorschriften beurteilen. Inhaltlich nahm das ENSI nicht Stellung. Die Anwohner ziehen den Nichteintretens-Entscheid nun ans Bundesverwaltungsgericht weiter.

Zur Vorgeschichte: Nach der Atomkatastrophe in Fukushima musste die Sicherheit der Schweizer Atomkraftwerke überprüft werden. Der Nachweis, dass Atomkraftwerke ein Hochwasser oder Erdbeben ohne schädigende Freisetzung von radioaktiven Stoffen überstehen können, unterliegt gesetzlichen Vorschriften nach internationalen Sicherheitsprinzipien. Diese Vorschriften wurden vom ENSI im Fall Mühleberg nicht beachtet: Die Sicherheitsbehörde rechnete unerlaubterweise den Einsatz von mobilen Feuerwehrpumpen zur Notkühlung an. Es klingt nach einem Detail. Aber nur dank diesem Verstoss konnte das ENSI dem Berner AKW weiter grünes Licht für den Betrieb geben.

Nach vergeblichem Briefwechsel ersuchten zwei Anwohner der Alarmzonen 1 und 2 das ENSI im März rechtsverbindlich um Korrektur. Nach mehr als sechs Monaten  beschied das ENSI nun den Anwohnern, es trete nicht auf ihr Gesuch ein. Die Bürger hätten gar kein Recht, die Handlungen des ENSI durch ein Gericht überprüfen zu lassen – es handle sich um eine Sache zwischen Aufsichtsbehörde und AKW-Betreibern.

„Das ENSI verweigert den Gesuchstellern den vom Gesetz ausdrücklich vorgesehenen Rechtsschutz – solche Behördenentscheide in sicherheitsrelevanten Atomfragen müssen vor Gericht überprüft werden können“, sagt ihr Anwalt Martin Pestalozzi. „Kommt das ENSI mit seiner Auffassung durch, dann besitzt es faktisch eine Lizenz zur Willkür“.

Die Kläger nutzen nun die einzige Möglichkeit, die ihnen noch zur Verfügung steht: In ihrer Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht verlangen sie, die Nichteintretensverfügung des ENSI sei aufzuheben und zur Behandlung an das ENSI zurückzuweisen. „Statt die Sicherheitsfrage zu klären, spielt das ENSI auf Zeit. Das ist für mich persönlich eine weitere Bestätigung, dass wir in der Sache Recht haben und dem ENSI die sachlichen Argumente fehlen“, sagt Markus Kühni, Ingenieur und einer der Kläger.

Das rechtliche Vorgehen wird unterstützt von Greenpeace. „Offensichtlich will das ENSI ein Auge zudrücken, um das AKW Mühleberg weiter am Netz zu lassen. Wenn für die Aufsichtsbehörde die Sicherheit wirklich das oberste Gebot ist, dann muss sie die Anliegen der Kläger ernsthaft prüfen.“ sagt Florian Kasser, Atomcampaigner von Greenpeace Schweiz.

Weitere Informationen und Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht:
[siehe unten]

Markus Kühni, Beschwerdeführer, Telefon 079 294 03 31
Rainer Burki, Beschwerdeführer, Telefon 079 369 23 21
Florian Kasser, Atomcampaigner, Greenpeace, Telefon 076 345 26 55
Martin Pestalozzi, Rechtsanwalt, Telefon 055 251 59 53 oder 055 251 59 59


Dokumente

Gesuch vom 20. März 2012:
Gesuch Art. 25a VwVG an das ENSI
Siehe auch ENSI verletzt Schweizer Recht – jetzt wollen Bürger AKW-Sicherheit einklagen →

Antwort des ENSI:
ENSI Nichteintretensverfügung auf Gesuch nach Art. 25a VwVG

Beschwerde vom 5. November 2012 an das Bundesverwaltungsgericht:
ENSI Nichteintreten auf Gesuch 25a VwVG – Beschwerde an Bundesverwaltungsgericht

Medienmitteilung:
Medienmitteilung Beschwerde gegen Nichteintreten

Hintergrund

Im Einklang mit internationalen Grundsätzen gibt es bei der Sicherheit der Schweizer AKW zwei Vorsorgekategorien – die Pflicht und die Kür sozusagen. Im Pflichtteil (Fachbegriff: „Rahmen der Auslegung“) sind gesetzliche Anforderungen und Regeln strikt einzuhalten, sowie deren Umsetzung in der Anlage zu zertifizieren (Fachbegriff: „sicherheitstechnische Klassierung“). Es gibt hier keinen Ermessenspielraum für die Betreiber und die Aufsichtsbehörden. Ein solcher steht erst in der „Kür“ zur Diskussion, wo die Anforderungen an die Vorsorge über den Rahmen der Auslegung hinausgehen, also seltenere oder komplexere Störfälle betreffen.

Bild 1: Tabelle 2 aus „Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit, Reaktorkatastrophe von Fukushima, Folgemassnahmen in der Schweiz

Nach Fukushima musste der Pflichtteil, also die „Auslegung“ (wie gesetzlich vorgeschrieben) überprüft werden, so auch die Hochwassersicherheit. Beim AKW Mühleberg stellte das ENSI offiziell fest, dass beim gesetzlich vorgeschriebenen Auslegungs-Hochwasser die einzige noch verfügbare Kühlwasserfassung durch organisches Material (mitgeschwemmte Planzenteile) verstopft werden kann. Dadurch wird nicht nur die Notkühlung des Reaktors unterbrochen, sondern auch die letzte Notstromversorgung des AKW (weil die Dieselgeneratoren mit demselben Wasser gekühlt werden).

Das AKW Mühleberg ist das einzige Schweizer AKW mit nur einer Notkühlquelle (Fachbegriff: Wärmesenke). Neben dem tschechischen AKW Dukovany das einzige in Europa.

Entgegen der schweizerischen und internationalen Vorschriften erlaubte das ENSI dem AKW Mühleberg trotzdem den Weiterbetrieb. Als Entschuldigung wird behauptet, man könne die Kühlwasserversorgung mittels Feuerwehrpumpen sicherstellen. Die Rettungskräfte stehen in diesem Fall einen halben Meter tief in der Flut und müssen mit vier mobilen Pumpen, Feuerwehrschläuchen und Saugkörben das Notkühlwasser unterbruchsfrei in eine dafür nachgerüstete Einspeisestelle pumpen (kein Witz!). Die ENSI-Beurteilung, dass dies in Ordnung sei, erfolgte ein halbes Jahr nachdem in Fukushima genau solche sogenannte „interne Notfallschutzmassnahmen“ (engl. Accident Management) reihenweise und auch noch nach Wochen gescheitert sind (vgl. KNS Fukushima-Bericht, ab Seite 15, Mitte).


Bild 2: nicht ganz ernst gemeinte Darstellung der Notfallmassnahmen im Falle des Auslegungshochwassers. Reale Einspeisestelle beim AKW Mühleberg mit fotomontiertem Hochwasserpegel gemäss Angaben des ENSI.
Siehe auch Video „Hochwasser, Entlastung Wohlenseestaudamm, Kühlwasserfassung“ →

Die ENSI-Beurteilung verletzt damit nicht nur den gesunden Menschenverstand sondern auch die grundlegendsten internationalen Prinzipien der Nuklearen Sicherheit, der sogenannten „Gestaffelten Sicherheitsvorsorge“ (engl. „Defence in Depth“). Nach diesem Grundsatz ist der „interne Notfallschutz“ erst ausserhalb des Rahmens der Auslegung zulässig (siehe auch Bild 1, weiter oben).

Accident management may not be used to excuse design deficiencies at prior levels.

Interner Notfallschutz darf nicht zur Entschuldigung von Defiziten bei der Auslegung auf niedrigeren Sicherheitsebenen verwendet werden.

Quelle: Internationale Atom Energie Agentur (IAEA) „Defence in Depth in Nuclear Safety“, Art. 43

In der Schweiz ist das „Konzept der gestaffelten Sicherheitsvorsorge“ ebenfalls im Recht verankert. Ganz konkret in Art. 8, Abs. 1 der Gefährdungsannahmenverordnung welcher als Kriterium zur Einhaltung der „grundlegenden Schutzziele zur Gewährleistung der nuklearen Sicherheit“ gemäss Art. 2, Abs. 3 zu erfüllen ist. Das „Konzept der gestaffelten Sicherheitsvorsorge“ selber wird vorzüglich im KNS Fukushima-Bericht, Kapitel 4 erklärt. Genaueres ennehmen Sie bitte der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, in Ziffer 27 oder noch ausführlicher dem Gesuch an das ENSI im Abschnitt 2.2.2.

Gegen diese Regelverletzungen haben Rainer Burki, Anwohner der Zone 1 und ich im März 2012 ein verwaltungsrechtliches Gesuch um Unterlassung der widerrechtlichen Handlung und Beseitigung der Folgen beim ENSI eingegeben.

 

Lizenz zur Willkür

Nach mehr als sechs Monaten beschied das ENSI uns nun, es trete gar nicht auf unser Gesuch ein. Bürger hätten kein Recht, die Handlungen des ENSI durch ein Gericht überprüfen zu lassen.

Für mich persönlich war dies eine weitere Bestätigung, dass wir in der Sache Recht haben und dem ENSI die sachlichen Argumente fehlen.

Das ENSI versucht das Rad der Zeit zurückzudrehen und uns unser Grundrecht auf Rechtsweggarantie (eingeführt mit der neuen Bundesverfassung als Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention) abspenstig zu machen.

Dagegen erheben wir nun Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.

Das Bundesverwaltungsgericht wird ersucht, dem Versuch des ENSI, sich dieser notwendigen Kontrolle durch wirksamen Rechtsschutz Dritter zu entziehen und eine Lizenz zur Willkür zu erhalten, einen Riegel zu schieben und so das ENSI zu zwingen, sich endlich materiell mit der Kritik der Beschwerdeführer auseinander zusetzen.

Schlusswort der Beschwerde, Martin Pestalozzi, Rechtsanwalt

Mit der eingereichten Beschwerde treten wir auch abgesehen von der AKW-Thematik dagegen an, dass einzelne allmächtige Behörden die Rechte der Bürger mit Füssen treten können, ohne dass sie dafür gerade stehen müssen.

Das rechtliche Vorgehen wird unterstützt von Greenpeace. Vielen Dank!

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