Ian Fairlie: Leukämie bei Kindern nahe Atomkraftwerken

KKM Hochkamin von Drohne aus
Bild: AKW Mühleberg von Drohne aus, Birdcam Solutions

Der folgende Beitrag stammt im englischen Original von Dr. Ian Fairlie (Juli 2014). Mit seiner freundlicher Genehmigung publiziere ich hier eine deutsche Übersetzung. Ich finde den Text sehr interessant in seiner Verständlichkeit, historischen Perspektive und Aussagekraft, weshalb ich ihn der Leserschaft von energisch.ch zugänglich machen möchte.

Allfällige Übersetzungsfehler und sprachlichen Holprigkeiten sind alleine mir zuzuschreiben.  Ich habe mir erlaubt einige zusätzliche Links zu deutschsprachigen Quellen hinzuzufügen. 


Ian FairlieDr. Ian Fairlie hat einen Abschluss in Radiobiologie des Bart’s Hospital in London, sein Doktorstudium am Imperial College in London sowie (kurz) an der Princeton University, USA betrafen die radiologischen Gefahren der Wiederaufbereitung von nuklearen Brennstoffen. Er arbeitete früher als Beamter an der Gesetzgebung für den Strahlenschutz bei Atomkraftwerken. Von 2000 bis 2004 war er Leiter des Sekretariats des CERRIE Komitees für interne Strahlungsrisiken der britischen Regierung. Seit seinem Rückzug aus der Verwaltung war er als Berater für das Europäische Parlament, lokale und regionale Behörden, Umweltorganisationen und Privatpersonen tätig.

Foto: (c) ianfairlie.org


 

Im März 2014 wurde mein Artikel über erhöhtes Auftreten von Leukämie bei Kindern nahe Atomkraftwerken im Journal of Environmental Radioactivity (JENR) publiziert. Ein früherer Blogbeitrag diskutierte die Entstehung des Artikels und seine grosse Leserschaft; der folgende Beitrag beschreibt nun seinen Inhalt in allgemeinverständlichen Worten.

Bevor wir anfangen, braucht es einen gewissen Hintergrund zum Verständnis der Bedeutung des neuen Artikels. Manchen Lesern ist es womöglich nicht bewusst, dass erhöhtes Auftreten von Leukämie nahe Atomkraftwerken schon für Jahrzehnte ein kontroverses Thema ist. Es erregte beispielsweise in den 1980er und frühen 1990er Jahren in Grossbritannien grosses Aufsehen, führte zu diversen TV-Sendungen, Regierungskommissionen und -komitees, einer bedeutenden internationalen Konferenz, Behördenberichten, mindestens zwei elefantösen Gerichtsfällen und wahrscheinlich über hundert wissenschaftlichen Artikeln. Es flackerte 1990 wieder auf, als der berühmte Gardner Report (Gardner et al, 1990) publiziert wurde, der eine sehr grosse Erhöhung (7-fach) der Leukämie bei Kindern nahe der berüchtigten Sellafield Nuklearanlage in Cumbria fand.

Das Thema scheint seither in Grossbritannien in den Hintergrund getreten zu sein, aber es wird in den meisten anderen Ländern Europas immer noch heiss diskutiert, speziell in Deutschland.

Das zentrale Problem ist, dass weltweit über 60 epidemiologische Studien die Krebshäufigkeit von Kindern nahe Atomkraftwerken untersucht haben; die meisten (>70%) zeigen eine Erhöhung von Leukämie. Ich kann mich an keinen anderen Bereich der Toxikologie (z.B. Asbest, Blei, Rauchen) erinnern, wo mit einer so grossen Anzahl Studien ein so klarer Zusammenhang aufgezeigt wird, wie derjenige zwischen AKW und Leukämie bei Kindern. Trotzdem fechten viele Atomkraft-Regierungen und die Nuklearindustrie diese Ergebnisse an und wehren sich weiterhin dagegen, Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Situation ist ähnlich wie mit dem Zigaretten-Rauchen in den 1960ern oder mit der von Menschen verursachten globalen Erwärmung heute.

Anfang 2009 wurde die Debatte teilweise wieder angefacht durch die renommierte KiKK Studie (Kaatsch et al, 2008), im Auftrag der deutschen Behörden, welche eine 60% Erhöhung von Krebs und eine 120% Erhöhung von Leukämie bei Kindern unter 5 Jahren fand, die im Umkreis von 5km der deutschen AKW lebten. Als eine Folge dieser überraschenden Resultate, lancierten die Regierungen Frankreichs, der Schweiz und Grossbritanniens eilig Studien um ihre AKW. Alle fanden erhöhtes Auftreten von Leukämie aber weil die Fallzahlen so klein waren, fehlte den Erhöhungen die „statistische Signifikanz“. Konkret: man konnte nicht 95% sicher sein, dass die Ergebnisse nicht zufällig waren.

Dies heisst nicht, dass dort keine Erhöhungen waren und tatsächlich, hätte man weniger strikte statistische Tests angewendet, wären die Resultate „statistisch signifikant“. Aber die meisten Menschen sind mit Statistik einfach zu beschwindeln—eingeschlossen Wissenschaftler die es besser wissen müssten—und die strikten 95%-Niveau-Tests wurden von den Regierungen gerne aufgenommen, wunschgemäss konnten unwillkommene Ergebnisse vermieden werden. Übrigens verwenden viele Tests in diesem Bereich heutzutage 90%-Niveaus.

In solchen Situationen wäre es angezeigt, die Datensammlungen in einer Meta-Studie zu kombinieren, um grössere Fallzahlen zu bekommen und daher höhere Niveaus statistischer Signifikanz zu erreichen. Die vier Regierungen hüteten sich, so etwas zu tun, weil sie wussten, was die Antwort sein würde, nämlich statistisch signifikante Erhöhungen bei nahezu der Gesamtheit der AKW in den 4 Ländern. Also halfen ihnen Körblein und Fairlie auf die Sprünge, indem sie es für sie erledigten (Körblein and Fairlie, 2012)—und erwartungsgemäss waren da statistisch signifikante Erhöhungen nahe der AKW. Dies sind ihre Ergebnisse:

Studien von beobachteten (O) und erwarteten (E) Leukämie-Fällen im 5 km Umkreis von AKWs

O E SIR=O/E 90% CI p-value
Deutschland 34 24.1 1.41 1.04-1.88 0.0328
Grossbritannien 20 15.4 1.30 0.86-1.89 0.1464
Schweiz 11 7.9a 1.40 0.78-2.31 0.1711
Frankreichb 14 10.2 1.37 0.83-2.15 0.1506
Kombinierte Daten 79 57.5 1.37 1.131.66 0.0042

a abgeleitet aus Daten von Spycher et al. (2011).
b akute Fälle von Leukämie

Diese Tabelle enthüllt eine statistisch hoch signifikante Erhöhung um 37% der Fälle von Leukämie bei Kindern im 5km Umkreis von nahezu der Gesamtheit der AKW in Grossbritannien, Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Es ist vielleicht nicht überraschend, dass die drei letztgenannten Länder den Atomausstieg bzw. eine Abkehr angekündigt haben.  Es ist nur die Britische Regierung, die in der Verleugnung verharrt.

Die Sache ist nun fraglos geklärt: es gibt einen sehr klaren Zusammenhang zwischen erhöhter Leukämie bei Kindern und Nähe zu einem AKW.  Es verbleibt die Frage was diesen (alles) bewirkt.

Die meisten Leute sind über die radioaktiven Emissionen und die Direktstrahlung aus dem AKW besorgt, jedoch hat jede Theorie, die Strahlung involviert, ein namhaftes Problem zu meistern; nämlich zu erklären, wie die riesige (~10’000-fache) Diskrepanz zwischen offiziellen Dosis-Abschätzungen und den unzweifelhaft beobachteten erhöhten Risiken entsteht.

Meine Erklärung involviert tatsächlich Strahlung. Sie entspringt der Haupterkenntnis der KiKK Studie, wonach erhöhtes Auftreten von Leukämie bei Kleinkindern und Kindern in enge Beziehung zur Nähe des AKW-Kamins gestellt wurde. Sie entspringt auch der KiKK Beobachtung, dass erhöht auftretende solide Tumore meist „embryonal“ waren, d.h. Säuglinge wurden entweder bereits mit soliden Tumoren geboren oder mit präkanzerösem Gewebe, welches sich nach der Geburt zu vollständig ausgebildeten Tumoren entwickelte; dies passiert mit Leukämie ebenfalls.

Meine Erklärung hat fünf Elemente. Erstens könnten die erhöhten Krebsfallzahlen wegen der Strahlenbelastung durch luftgetragene AKW-Emissionen auftreten. Zweitens könnten grosse, jährliche Spitzen bei den Emissionen der AKW zu erhöhten Dosis-Raten bei der Bevölkerung im 5km Umkreis  der AKW führen. Drittens könnten die beobachteten Krebsfälle bei schwangeren Frauen in utero entstehen. Viertens könnten sowohl die Dosen als auch deren Risiken für Embryos und Föten grösser sein, als aktuell abgeschätzt. Und fünftens könnten vorgeburtliche blutformende Zellen im Knochenmark aussergewöhnlich strahlungsempfindlich sein. Zusammen könnten diese fünf Faktoren eine Erklärung für die Diskrepanz zwischen geschätzten Strahlen-Dosen aus AKW-Emissionen und den von der KiKK Studie beobachteten Risiken liefern. Diese Faktoren sind ausführlich im vollen Artikel diskutiert.

Mein Artikel zeigt tatsächlich, dass die aktuelle Diskrepanz erklärt werden kann. Das erhöhte Auftreten von Leukämie, wie beobachtet von KiKK und vielen anderen Studien, könnte in utero entstehen, als Folge von embryonalen/fötalen Belastungen durch in den Körper aufgenommene Radionuklide aus radioaktiven Emissionen der AKW. Sehr hohe Emissionsspitzen von AKW könnten einen präleukämischen Zellklon erzeugen und nach der Geburt könnte ein zweiter Strahlentreffer einige dieser Zellklone in voll ausgebildete Leukämiezellen umwandeln. Die betroffenen Säuglinge werden präleukämisch geboren (was unsichtbar ist) und die voll entfaltete Leukämie wird erst in den ersten Lebensjahren diagnostiziert.

Bis heute wurden keine Leserbriefe an den Herausgeber [Anm.: =formelle Replik auf eine wissenschaftliche Publikation] empfangen, die Fehler oder Lücken in diesem Artikel aufgezeigt hätten.

Referenzen:

Bithell JF, M F G Murphy, C A Stiller, E Toumpakari, T Vincent and R Wakeford. (2013) Leukaemia in young children in the vicinity of British nuclear power plants: a case–control study. Br J Cancer. advance online publication, September 12, 2013; doi:10.1038/bjc.2013.560.

Bunch KJ, T J Vincent1, R J Black, M S Pearce, R J Q McNally, P A McKinney, L Parker, A W Craft and M F G Murphy (2014) Updated investigations of cancer excesses in individuals born or resident in the vicinity of Sellafield and Dounreay. British Journal of Cancer (2014), 1–10 | doi: 10.1038/bjc.2014.357

Fairlie I (2013) A hypothesis to explain childhood cancers near nuclear power plants. Journal of Environmental Radioactivity 133 (2014) 10e17

Gardner MJ, Snee MP; Hall AJ; Powell CA; Downes S; Terrell JD (1990) Results of case-control study of leukaemia and lymphoma among young people near Sellafield nuclear plant in West Cumbria. BMJ. 1990;300:423–429.

Kaatsch P, Spix C, Schulze-Rath R, Schmiedel S, Blettner M. (2008) Leukaemia in young children living in the vicinity of German nuclear power plants.  Int J Cancer; 122: 721-726.

Körblein A and Fairlie I (2012) French Geocap study confirms increased leukemia risks in young children near nuclear power plants. Int J Cancer 131: 2970–2971.

Spycher BD, Feller M, Zwahlen M, Röösli M, von der Weid NX, Hengartner H, Egger M, Kuehni CE. Childhood cancer and nuclear power plants in Switzerland: A census based cohort study. International Journal of Epidemiology (2011) doi:10.1093/ije/DYR115. http://ije.oxfordjournals.org/content/early/2011/07/11/ije.dyr115.full.pdf+html


Übersetzung: Markus Kühni

 

2015-02-03 KKL EMIZur Illustration: Beispiel Emissions-Spitzen beim AKW Leibstadt 01.01.-02.02.2015, man beachte die logarithmische Skala—erkämpft mit dem Öffentlichkeitsgesetz

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