Risse im Reaktordruckbehälter des belgischen AKW Doel 3


Bild: Transport des Reaktordruckgefässes von Gebrüder Sulzer AG, Winterthur, nach Mühleberg durch Welti-Furrer AG Zürich. Datum 14.9.69, Aufnahme Photopress.
Quelle: Staatsarchiv Bern, N P. Böhm 14. Atomkraftwerk Mühleberg, mit Berichten über den Arbeitsstand.

Am 8. August informierte die belgische Nuklearaufsichtsbehörde FANC die Öffentlichkeit darüber, dass Tausende von Rissen im Reaktordruckbehälter (RDB) des AKW Doel 3 detektiert werden.

Risse im Reaktordruckbehälter sind ein Schreckgespengst für die weltweite Nuklearindustrie. Ein Versagen des Reaktordruckbehälters schlossen Konstrukteure, Betreiber und Nuklearaufsicht nämlich seit jeher ganz einfach aus ihren Überlegungen zur Bewältigung von Störfallen aus. Die Sicherheitssysteme und das Containment sind nicht dafür ausgelegt. Es käme zu grossen, nicht wieder unter Kontrolle zu bringenden Freisetzungen radioaktiver Stoffe. Industrie und Aufsicht negieren deshalb diese Möglichkeit und verweisen auf die strengen Qualitätskontrollen der Druckgefässe.

Die FANC erregte besonders grosses Aufsehen, weil sie meldete, dass weltweit 21 weitere Reaktoren betroffen sein könnten, da deren Druckbehälter vom selben Hersteller Rotterdamsche Droogdok Maatschappij (RDM) stammen:

[eigene Übersetzung aus dem englischen Original]

Könnten diese Rissanzeigen Folgen für andere AKW weltweit haben?

21 Reaktordruckbehälter dieses Typs stehen überall in der Welt (Anzahl noch zu bestätigen) und die FANC arbeitet mit den Aufsichtsbehörden der betroffenen Länder zusammen, um ihnen Informationen über Doel 3 zu liefern und um sie zu bitten, ihre Erfahrung Belgien zur Verfügung zu stellen.

In den „Berichten über den Arbeitsstand“ der BKW von ca. 1967 fand ich folgende Hinweise:

6.2 Bestellungen

In der Berichtsperiode wurden folgende grössere Teile bestellt bzw. Arbeiten vergeben: […]
Reaktordruckgefäss beim Konsortium Gebr. Sulzer AG, Winterthur – Rotterdamsche Droogdok Maatschappij (RDM), mit Sulzer als Federführer

Bestellungen KKM – Auszug Bericht über den Arbeitsstand

Damit war klar: das AKW Mühleberg steht unter Verdacht. Später wurde dies auch vom ENSI bestätigt.

Die BKW reagiert am 23.8.2012 mit der Mitteilung „BKW überprüft Reaktordruckbehälter„:

Um jegliche Fehler in den damaligen Herstellungs- und Überwachungsprozessen auszuschliessen, hat die BKW entschieden, eine repräsentative Fläche des RDB-Grundmaterials zu überprüfen. Über die geplanten Prüfungen ist das ENSI informiert worden. Daraufhin hat die Aufsichtsbehörde die Prüfungsmodalitäten festgelegt. Die Prüfung wird einige wenige Tage dauern und eine entsprechende geringfügige Verschiebung der Wiederinbetriebnahme des KKM zur Folge haben.

Im Bund-Artikel „BKW prüft AKW-Druckbehälter – teilweise“ erläutert die BKW, was mit „repräsentative Fläche“ gemeint ist.

Der Druckbehälter besteht aus fünf aufeinandergestapelten und miteinander verschweissten Stahlringen. Laut BKW-Sprecher Antonio Sommavilla wird jeder Ring auf einer Breite von einem halben Meter vermessen. Zum Vergleich: Der Umfang des Druckbehälters beträgt 12,7 Meter.

«Es ist gängige Praxis, dass man repräsentative Proben nimmt, die zuverlässige Rückschlüsse auf den Zustand des ganzen Behälters erlauben», begründet Sommavilla die Stichproben.

Die Einschränkung auf eine solche Stichprobe wird selbstverständlich kritisiert. Zum Beispiel von Greenpeace:

Greenpeace-Atomcampaigner Florian Kasser begrüsst zwar, dass sich die BKW im Interesse der Sicherheit zu diesem Schritt durchgerungen hat, bemängelt aber das Vorgehen: „Da mögliche Risse im Grundmaterial nicht zwangsläufig gleichmässig über den Behälter verteilt sind, genügen Stichproben-Messungen sicherlich nicht, um Materialfehler ausschliessen zu können. Eine halbpatzige Prüfung reicht nicht!“

In Belgien dauern die Untersuchungen nun bereits fünf Wochen an, die BKW geht davon aus, dass es „einige wenige Tage dauern“ werde, um Mühleberg zu untersuchen. Es ist unverständlich, dass sich das ENSI als Aufsichtsbehörde mit einer solchen Augenwischerei abspeisen lässt. Greenpeace fordert das ENSI auf, das heute verkündete Vorgehen der BKW zu korrigieren und eine vollständige Überprüfung des Druckbehälters anzuordnen. Bis vollständige Klarheit herrscht, darf das AKW Mühleberg nicht mehr ans Netz.

In der Tat schreibt die belgische Nuklearaufsicht, man habe die Risse nur entdeckt, weil man erstmals vollflächig getestet hatte:

[eigene Übersetzung aus dem englischen Original]

Warum wurden diese Fehleranzeigen nicht früher entdeckt?

Eine neue Ultraschallmesstechnik wurde zum ersten Mal im Juni 2012 für die ganze Oberfläche des Druckbehälters von Doel 3 angewendet. Diese Inspektion wurde durch eine spezialisierte französische Firma im Auftrag von Electrabel [Anm. die Betreiberin von Doel 3] durchgeführt. Dies ist das ersten Mal in Belgien, dass das Grundmaterial des Reaktordruckbehälters getestet wurde (abgesehen von den Schweissnähten). Die gesamte Wand des Reaktordruckgbehälters wurde auch inspiziert, obwohl die ASME XI Standards nur die Inspektion empfindlicher Komponenten empfiehlt.

Der letzte Satz ist von eminenter Wichtigkeit: die belgische Aufsicht hat den Mangel nur darum entdeckt, weil sie sich nicht an den Prüfumfang gemäss internationalen Vorschriften gehalten hat, sondern darüber hinaus eine vollflächige Prüfung angeordnet hatte.

Erkenntnis: Es ist nachgewiesen, dass die internationalen Prüfvorschriften (ASME XI Standards) ungenügend sind.

Da sollten bei jeder Aufsichtsbehörde selbstverständlich die Alarmglocken läuten.

Der Autor des Bund-Artikels hat deshalb das ENSI mit den obenstehenden Aussagen konfrontiert und gefragt, ob es nun eine integrale Überprüfung anordne. Die Antwort ist erstaunlich:

Für das Ensi ist dies kein Argument für eine integrale Überprüfung. Es schreibt dazu: «Das internationale Regelwerk fordert eine vollständige Prüfung des Grundmaterials nach der Herstellung.» Danach werde das Grundmaterial des Druckbehälters wiederkehrend in der Umgebung von Schweissnähten geprüft.

Das ENSI beruft sich wieder auf die Vorschriften. Das ist demonstrative Erkenntnisresistenz. Das ENSI hat offenbar keinerlei Lehren aus der nachgewiesenen Mangelhaftigkeit der Prüfvorschriften gezogen.

Sicherheit ist ein Prozess“ — das ENSI und die AKW-Betreiber werden nicht müde diesen Slogan zu wiederholen. Sicherheit ist aber offenbar nur dann ein Prozess, wenn es darum geht, seine Fehler zu entschuldigen*. Wenn es aber darum ginge, etwas zu lernen, gibt es nur „Dienst nach Vorschrift“.

 


 

* Etwa wenn das ENSI endlich — unter dem Druck unwiderlegbarer Fakten aus Fukushima — eingesteht, dass bisherige Sicherheitssysteme nicht genügen und dass Kritiker seit 20 Jahren Recht haben.

[Der Artikel wurde am 27.8.2012 geringfügig geändert]

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