Tagesanzeiger: „Neuer Zwist um Sicherheit bei Atomkraftwerken“

Gefaehrdungsannahmenverordnung

Der Tagesanzeiger schreibt im Artikel „Neuer Zwist um Sicherheit bei Atomkraftwerken“ über behördliche Meinungsverschiedenheiten bei der Gesetzesauslegung zur Sicherheit der AKW. Von Stefan Häne.

Das Bundesamt für Energie muss eigene Aussagen zur Sicherheitsprüfung von Schweizer Atomkraftwerken korrigieren. Das Amt hatte sich auf Angaben der Atomaufsichtsbehörde Ensi verlassen. Nun wird Kritik laut.

Es geht um die gesetzlichen Bestimmungen zur Feststellung, ob ein AKW sicher ist oder nicht, bzw. ob es „unverzüglich vorläufig ausser Betrieb“ genommen werden muss. Dabei spielen unter anderem die sogenannten Gefährdungsannahmen eine wichtige Rolle.

Fällt ein Schüler durch eine Aufnahmeprüfung, hat er drei Optionen: Er gibt definitiv auf. Er lernt so lange weiter, bis er beim nächsten Anlauf reüssiert. Oder aber die Prüfung wird so vereinfacht, dass der Schüler sie ohne weiteren Aufwand besteht. Nach letzterem Prinzip, so warnt Greenpeace, könnte in der Schweiz die Sicherheitsprüfung von Atomkraftwerken (AKW) erfolgen.

Antwort auf eine nationalrätliche Anfrage

Genährt wird die skizzierte Befürchtung von Greenpeace durch eine Antwort, die der Bundesrat auf eine Anfrage der Schaffhauser SP-Nationalrätin Martina Munz gegeben hat. Es «wäre im konkreten Anwendungsfall zu prüfen», so schreibt die Regierung, inwieweit Abweichungen von der Verordnung über die Gefährdungsannahmen zulässig seien.

Im Originaltext der Antwort:

Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung müssen ältere Anlagen nicht immer an den Stand der Sicherheit von Neuanlagen angepasst werden; vielmehr ist bei einer Fortentwicklung des Standes von Wissenschaft und Technik von Fall zu Fall zu entscheiden, ob diese sicherheitstechnisch relevant ist. Falls die Fortentwicklung sicherheitstechnisch relevant ist, ist zu prüfen, ob für bestehende Anlagen die dadurch zu ergreifenden Massnahmen unter Wahrung der Verhältnismässigkeit zu realisieren sind oder ob durch andere Massnahmen das übergeordnete Schutzziel ebenfalls erreicht werden kann. Inwieweit – gestützt auf diese Ausführungen – Abweichungen von der Gefährdungsannahmen-Verordnung zulässig sind, wäre im konkreten Anwendungsfall zu prüfen.

Einmal mehr hören wir von „Abweichungen“ die „zulässig sind“. Bereits am Beznau-Hearing habe ich aufgezeigt, wie das ENSI diese Formulierung benutzt, um die Alt-AKW laufen lassen zu können und wie diese nicht nachvollziehbare Gesetzesauslegung die Nukleare Sicherheit der freien Behördenwillkür unterstellt.

Immerhin: auch das Bundesamt für Energie scheint anderer Meinung zu sein:

Verfasst hat die Antwort nicht der Bundesrat selber. Dafür zuständig sind die Fachleute von Bundesrätin Doris Leuthard im Bundesamt für Energie (BFE). Nachfragen des «Tages-Anzeigers» fördern nun aber Erstaunliches zutage. So stellt das BFE mit Verweis auf die gesetzlichen Grundlagen klar, die Gefährdungsannahmen müssten in jedem Fall erfüllt werden, sie könnten nicht beliebig nach unten korrigiert werden. Der fragliche Satz sei «nicht ausreichend ­exakt und daher missverständlich».

«Ensi schützt AKW-Betreiber»

Wie konnte es dazu kommen? Den Satz, ja die ganze Antwort auf Munz’ Anfrage hat nicht das BFE ausgearbeitet, sondern das Ensi.

Einmal mehr führen alle Wege nach Brugg, einmal mehr hat das ENSI seine AKW-freundliche Fehlauslegung des Kernenergiegesetzgebung durchblicken lassen. Im Rahmen meines Mandats von Nichtregierungsorganisationen im Technischen Forum Kernkraftwerke wurde mir bereits vor einem guten Jahr eine analoge Antwort gegeben:

Greenpeace zweifelt daran, dass der fragliche Satz einer sprachlichen Ungenauigkeit oder Unachtsamkeit entsprungen ist. Bereits im September 2013 hatte laut Kasser das Ensi im Rahmen des Technischen Forums Kernkraftwerke dargelegt, Abstriche bei den Gefährdungsannahmen seien möglich. Vertreter von Greenpeace waren erstaunt und verlangten eine Protokollierung dieser Aussage. Vergeblich. Die Antwort auf die Anfrage von SP-Politikerin Munz bestätigt Kasser nun in seiner Vermutung: «Das Ensi versteht offensichtlich das Gesetz falsch», sagt er. Dies sei ein «Grund zur Sorge». Kritik übt auch Munz: «Statt die Bevölkerung zu schützen, schützt das Ensi die AKW-Betreiber.»

Das ENSI freilich „verwahrt sich gegen die Kritik“. Es „setze alle Gesetze und Verordnungen konsequent um“. Die Zusicherungen sind bekannt: der ENSI-Direktor behauptete 2011 sogar persönlich, es gäbe „keinen politischen Ermessensspielraum“:

Kein politischer Ermessensspielraum - Folie 42 - Beznau Hearing
Folie vom Beznau-Hearing

In der Praxis vertritt das ENSI das Gegenteil: es bestätigte auch gegenüber der Kommission für Nukleare Sicherheit, es könne (ergo nach freiem Ermessen) Abweichungen bei der Umsetzung von Auslegungsgrundsätzen akzeptieren:

Ausserbetriebnahme à la ENSI - Folie 51 - Beznau Hearing
Folie vom Beznau-Hearing

Der Tagesanzeiger-Artikel schliesst mit einer typischen Ausrede des ENSI:

… der Sicherheitsstandard der Schweizer AKW sei hoch. Dies habe der letzte Stresstest der EU bestätigt.

Wer die Hintergründe kennt, kann gerade im Zusammenhang mit den Gefährdungsannahmen nur den Kopf schütteln. Das ENSI hat den AKW damals erlaubt—sie sogar dazu aufgefordert—die hoffnungslos veralteten Erdbeben-Gefährdungsannahmen von 1977 zu verwenden (und dies ungeprüft). Seit 2004 weiss man, dass diese nach dem Stand der Wissenschaft um mindestens den Faktor 2 zu tief liegen (PEGASOS-Studie).

Juristische Massnahmen

Die illegale Gesetzesauslegung durch das ENSI steht vor Gericht: ganz konkret in unserem Verfahren gegen das illegale Anrechnen von mobilen Feuerwehrpumpen beim AKW Mühleberg.

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