Nuclear Phaseout Congress 2016
Mit einer ganzen Reihe hochkarätiger Referenten hat die Schweizerische Energiestiftung (SES) den Nuclear Phaseout Congress 2016 durchgeführt. Ich bin schlicht begeistert!
Hier einige Fotos und Bemerkungen zu den für mich neuesten/wichtigsten Erlebnissen. Die Folien zu den Referaten finden Sie bei der Veranstalterin SES →
Oda Becker, Physikerin sprach über alterungsbedingte Schwachstellen des AKW Beznau. Das Referat wirft viele (mir weitgehend bekannte) Fragen über die Aufsicht durch das ENSI auf.
Yves Marignac, Direktor WISE-Paris zeigte auf, wie verschiedene „Kräfte“ auf die Sicherheitsmargen wirken. Durch Alterung/Veraltung werden sie reduziert, dies kann die Häufigkeit und/oder die Schwere von Unfällen erhöhen. Nachrüstungen können teilweise wieder eine Marge herstellen, so dass die Akzeptanzgrenze nicht überschritten wird. Dagegen wirkt aber wiederum der Kostendruck.
Für mich eindrücklichstes Element des Vortrags: er zeigte das gigantische Problem Frankreichs auf, eine alternde Flotte von AKW aus der Boom-Zeit, die fast 80% der Stromproduktion des Landes decken, über wenige Jahre hinweg für einen Weiterbetrieb nach 40 Jahren Laufzeit nachrüsten zu müssen. Die geschätzten Kosten liegen je nach Szenario—sprich je nach Sicherheitsansprüchen—zwischen 350 und 4350 Mio. Euro — Pro Reaktor! Es müssten fünf Stück pro Jahr nachgerüstet werden, um durchzukommen. Wenn da keine faulen Kompromisse gemacht werden…
In einem späteren persönlichen Gespräch stellte er klar, dass Frankreich nicht wirklich eine unbefristete Bewilligung kennt (wie das ENSI es darstellt). Nach 40 Jahren komme eine gesetzlich verankerte Langzeitbetriebsphase, welche die Genehmigung der Aufsichtsbehörde erfordere. Gegen eine solche Genehmigung könne dann auch Beschwerde geführt werden. Welche rechtliche Bedeutung und Verbindlichkeit dieses Verfahren hat, weiss ich allerdings (noch) nicht.
Simone Mohr, Senior Researcher Nukleartechnik, Ökoinstitut Darmstadt sprach über die mit Ultraschall festgestellten Materialfehler beim Reaktordruckbehälter des AKW Beznau. Sie kritisierte das ENSI für die Rückhaltung der Informationen:
Im Vergleich zu den belgischen Betreibern und Behörden wenig öffentliche Information zu den Befunden bisher.
Sie zeigt auch auf, wie das ENSI durch Erlass der Richtlinie ENSI-B01/d im Jahr 2011 die Sicherheitsmargen beim Sprödbruchrisiko des Reaktordruckbehälters massiv abgebaut hat und zwar abweichend von den Grundlagen der Gesetzgeberin (UVEK Ausserbetriebnahmeverordnung). Ähnliches habe ich kürzlich bei einer anderen Richtlinie aufgezeigt. Sicherheitsmargen und strikte Regeln werden auf der technischen Detailebene (wo nur Experten es mitbekommen) systematisch zu Gunsten des endlosen Weiterbetriebs der AKW aufgeweicht. Umso stossender war dann später der Vortrag des ENSI-Direktors (s.u.).
Gregory Jaczko, ehemaliger Chef der Atomaufsicht NRC der USA hielt einen erstaunlich unverblümten Vortrag darüber, dass eigentlich keine der gesellschaftlichen und gesetzlichen Ansprüche an die Nukleare Aufsicht erfüllt werden können.
Das fange schon beim Begriff „Sicherheit“ an. Die Bevölkerung verstehe darunter, was das Wörterbuch besagt: „Befreit sein vom Auftreten von Verletzungen, Gefahr oder Verlust“ (übersetzt aus dem Englischen). Die Industrie und die Aufsicht verstehe darunter aber niedrige Wahrscheinlichkeit eines Unfalls oder schlicht Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen. Das sei etwas ganz anderes.
In der Fragerunde fragte ich ihn, warum denn die Aufsichtsbehörden—so auch das ENSI—immer „ist sicher“ sage und nicht „hält die gesetzlichen Anforderungen ein“. Er meinte es gäbe wohl einen Druck das zu tun, er habe es oft getan und halte das jetzt für einen Fehler. Später sagte er mir noch persönlich, es würde wohl viel bringen, wenn man diese Praxis ändern würde. Bevölkerung und Politiker würden dann eher verstehen, was es wirklich bedeutet und verantwortungsvoller handeln.
Im Referat führte er weiter aus, die Aufsicht sei keinesfalls rechtlich und politisch unabhängig, wie das internationale und nationale Standards fordern und sie sei es gerade auch vor dem militärischen Hintergrund noch nie gewesen. Er erklärte eindrücklich, dass dies gar nicht möglich sei. Dasselbe gelte für die Unabhängigkeit von den AKW-Betreibern. Es sei schon rein zahlenmässig für das Personal nicht möglich, unabhängige technische Sicherheitsüberprüfungen vorzunehmen. Man sei immer auf die Angaben der Betreiber angewiesen. Es seien ja auch die Betreiber für die Sicherheit verantwortlich, nicht die Aufsichtsbehörden. Auch darüber bestünden falsche Vorstellungen bei der Bevölkerung.
Am Abend konnte ich noch länger mit ihm sprechen. Unter anderem hat er das Schweizer System der unbefristeten Bewilligungen als sehr merkwürdig („very strange“) bezeichnet. In den USA gelten befristete Bewilligungen (40 Jahre). Danach können die Betreiber eine Verlängerung beantragen, müssen aber ein Langzeitbetriebskonzept mit einem Überwachungsprogramm für die Alterung der Komponenten einrichten. Viele scheuen die Kosten für das Bewilligungsverfahren und die Erfüllung von Auflagen und legen die AKW still (Referent Mycle Schneider zeigte später noch, dass auch reihenweise AKW stillgelegt werden, welche die Bewilligungs-Verlängerung sogar schon besitzen).
Hans Wanner, Direktor des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats ENSI sprach über den zunehmenden ökonomischen Druck auf die AKW-Betreiber und seine Befürchtungen, dass nun bei der Sicherheit gespart werde, das sei bisher nicht so gewesen. Er bedauerte, dass der ENSI Vorschlag für ein Langzeitbetriebskonzept vom Parlament verworfen wurde, welcher das Ziel gehabt hätte, steigende Sicherheitsmargen bis zur Stilllegung der AKW fordern zu können. In der Manier eines Showmasters quer über die ganze Bühne gleitend, vermittelte er das Bild des gallant für Sicherheitsmargen fechtenden ENSI.
Schade einfach, dass hinter den schönen Worten das pure Gegenteil betrieben wird: wie die Vorrednerin Simone Mohr kurz zuvor aufzeigte (s.o.) und wie ich dies kürzlich anhand einer anderen Richtlinie belegte, werden erforderliche Sicherheitsmargen und strikte Kriterien vom ENSI in Wahrheit systematisch abgebaut.
Mycle Schneider, unabhängiger internationaler Energieberater und Herausgeber des bekannten „World Nuclear Industry Status Report“ klärte die Frage, ob bei Atomkraft ein Revival beobachtet werden könne, oder doch eher „Geriatrie„.
Seitenweise harte Fakten zeigten Stagnation und Rückgang der Atomkraft bei allen Indikatoren auf. Nur China baue einfach alles, also Wind, Solar und Atom im grossen Stil. Selbst in China wird jedoch anderthalb mal mehr Strom aus neuen Erneuerbaren produziert, als aus Atom. Global geht die Atomkraft bei den prozentualen Anteilen der Elektrizitätsproduktion deutlich zurück. Was die Nuklearlobby jahrzehntelang als komplett utopische Spinnerei abgetan hat, ist eingetreten: seit Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls 1997 hat der Zuwachs der Stromproduktion aus Photovoltaik weltweit gesehen bereits 2013 denjenigen der Atomkraft überholt, die Windkraft liegt schon um Faktor 4.2 drüber. Echter funktionierender Klimaschutz.
Jürgen Trittin, Bundestagsabgeordneter, ehem. deutscher Umweltminister zeigte ebenfalls anhand roher Fakten auf, welche Erfolgsgeschichte die von ihm mitgestaltete deutsche Energiewende eigentlich ist. Nein, Deutschland hat nicht Atom durch Kohle ersetzt (wie das später eine Zuschauerin behauptete). Auch der Öl-/Kohleanteil an der Stromproduktion sank seit 1990 sogar in absoluten Zahlen, d.h. trotz insgesamt steigender Produktion.
Einschub: Weil in Schweizer Medien immer wieder das Gegenteil verbreitet wird, habe ich das selber wiederholt nachgeprüft und kann es auch nach aktuellen Zahlen bis 2015 bestätigen. Sehr schön im folgenden Diagramm ersichtlich, wo sich die rasch auffächernden Erneuerbaren (zuoberst) trotz Gesamtwachstum in die rote Atomkraft herab fressen, wo aber darunter auch der dunkelgrau/braune Kohleanteil—wenn auch langsam und mit Schwankungen—insgesamt schrumpft:
Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie Deutschland, Energiedaten: Gesamtausgabe
Stand: Januar 2016
Auch was Subventionen anbelangt, zeigte Herr Trittin auf, dass sowohl Atomkraft wie auch Steinkohle von 1970 bis 2012 (teuerungsbereinigt) beide mehr als drei Mal so viele Subventionen erhalten haben wie die Erneuerbaren.
Einschub: Wenn ich neuere Zahlen bis 2014 verwende, sind die Subventionen der Atomkraft zwar immer noch doppelt so gross, aber man sieht, dass die Erneuerbare rasch aufholen. Deutschland zahlt gleichsam für den Rest der Welt den Grossteil des Lehrgelds für die Technologie-Entwicklung (Herr Trittin hat das grinsend auch als „versteckte Entwicklungshilfe“ bezeichnet). Entsprechend sind die Vergütungen für die früheren Anlagen sehr hoch. Immerhin: nach 20 Jahren Vergütung ist fertig und die Kosten werden so schnell fallen, wie sie jetzt ansteigen! Zum Vergleich: für das britische Neubau-AKW will man 35 Jahre lang höhere Vergütungen bezahlen und das erst noch der Teuerung angepasst.
Herr Trittin zeigte schliesslich auch brutal auf, wie die grossen deutschen Strombarone die Wende vollständig verschlafen haben und nun (ganz ähnlich wie manche Schweizer Kollegen) vor dem Ruin stehen. (Transkript →)
Naoto Kan, Abgeordneter des japanischen Repräsentantenhauses, Premierminister während der Fukushima Ereignisse (und studierter Physiker), beschrieb seine Erlebnisse und Gedanken während der schlimmsten Phase der Natur- und Atomkatastrophe. Naoto Kan erzählte offen, wie er vorher die Atomenergie befürwortete und warum er jetzt dezidierter Gegner ist.
Zeitweise bestand nach Schätzungen seiner Experten die reale Gefahr, dass wegen möglicher radioaktiver Freisetzungen die Menschen im Umkreis von 250 km (50 Millionen)—inkl. Tokyo—hätten evakuiert werden müssen. Neben dem aufopfernden Kampf der Hilfskräfte (vor allem der Feuerwehrleute) war es seiner Ansicht nach pures Glück (er nennt es „göttliche Fügung“), dass dieser Worst Case nicht eingetreten ist. Beispielweise habe das Containment des Block 2 gerade rechtzeitig noch ein Leck bekommen, bevor es unter dem gewaltigen Überdruck zerborsten wäre. Auch beim Brennelementbecken von Block 4 habe ein Spalt (Anheben) bei den Dammplatten zwischen der (unplanmässig) gefüllten Reaktorgrube und dem Becken im entscheidenden Moment eine Wasserzufuhr gewährleistet [Anm: Beschreibung basierend auf anderen Quellen ergänzt]. In beiden Fällen wäre es ohne dieses „Glück“ zu immensen Freisetzungen radioaktiver Stoffe gekommen. Die sechs Reaktoren (plus Brennelementbecken) sowie wohl auch die vier Reaktoren des naheliegenden Fukushima Daini hätten vollständig evakuiert werden müssen und wären dann ihrerseits unkontrolliert und unaufhaltsam durchgebrannt. Das 250 km Evakuationsszenario halte ich persönlich (gerade im Tschernobyl-Vergleich) für eher „optimistisch“.
Empfehlung: diesen Artikel des Tagesanzeigers lesen und dann das Buch kaufen.
Am abschliessenden Panel wurden die Referate im erweiterten Kreis diskutiert. Aufgefallen ist dabei vor allem Beat Bechtold vom Nuklearforum (bzw. Burson-Marsteller). Ich gehe einmal davon aus, dass er als geladener Gast des Panels auch tatsächlich die Referate angehört hat, über die er diskutieren sollte. Sollte dies zutreffen, demonstrierte er eine Erkenntnisresistenz die ihresgleichen sucht. Er brachte allen Ernstes genau diejenigen ewiggestrigen Atom-PR Argumente und Zahlen, die zuvor—teilweise gleich von mehreren Referenten—sorgfältig und fundiert demontiert wurden. Ziemlich peinlich.
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