TagesAnzeiger: „Atomaufsicht kann Erdbebensicherheit von AKW nicht einschätzen“

Der Bund

Der TagesAnzeiger/Bund hat im Artikel „Atomaufsicht kann Erdbebensicherheit von AKW nicht einschätzen“ (PDF s.u.) einmal mehr über die endlose Verzögerung bei der Neubestimmung der Erdbebengefährdung geschrieben (von Simon Thönen, 18.9.2015).

Seit 1999 versucht das Ensi, die Erdbebengefahr für AKW neu zu bestimmen. Auch die neueste Studie ist laut einem Expertenteam mangelhaft. […]

Seine Vorläuferbehörde, die Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK), hat die Abklärungen bereits 1999 eingeleitet – doch es liegt noch immer kein gültiges Resultat vor.

Resultat seit 2004 vorhanden, aber nicht angewendet

Der Artikel beschreibt, wie die PEGASOS genannte Studie eigentlich bereits 2004 vorlag und auch akzeptiert wurde, deren Anwendung aber erfolgreich von den AKW-Betreibern abgewendet werden konnte:

Diese lag bereits 2004 vor. Und sie zeigte: Die Erdbebengefahr ist grösser als zuvor angenommen. Doch damals liefen-die AKW-Betreiber aus Furcht vor teuren Nachrüstungen Sturm gegen die Pegasos-Studie. Darauf lenkte die damalige Atomaufsicht HSK ein und erlaubte den Betreibern, dass sie eine Nachfolgestudie unter eigener Leitung in Auftrag geben konnten.

Diese Nachfolgestudie sollte der „Verfeinerung“ dienen und wurde PEGASOS Refinement Project (PRP) genannt.

Zeitgewinn für die AKW

Damit gewannen die AKW-Betreiber viel Zeit. Denn die HSK erlaubte ihnen 2005 zudem, dass sie die Erdbebenwerte von Pegasos vorderhand nur mit Abstrichen verwenden mussten -…

Es sei auf die vielsagende Schlagzeile „Amtlich bewilligte Trickserei bei AKW-Erdbebensicherheit“ verwiesen, als dies im vollen Umfang bekannt wurde. Wesentlich gravierender war jedoch, dass PEGASOS für den rechtlich verbindlichen Teil der deterministischen Störfallanalyse gar nicht angewendet werden musste:

Gerade diese sind aber entscheidend dafür, ob ein AKW aus Sicherheitsgründen vom Netz gehen muss.

Gesetz fordert eigentlich Stand der Wissenschaft

Schon das alte Atomgesetz von 1959 forderte, es seien „zum Schutze von Leben und Gesundheit alle Massnahmen zu treffen“, welche nach „dem Stande der Wissenschaft und der Technik notwendig sind.“ PEGASOS entsprach gemäss der damaligen, offiziellen Beurteilung der HSK dem Stand der Wissenschaft [HSK-AN-5364, Dezember 2004]:

PEGASOS results provide the best site-specific PSHA estimates now available for Swiss nuclear power plants (NPPs), and correspondingly, information produced from PEGASOS represents the most appropriate basis for developing seismic inputs for probabilistic safety assessments (PSAs) and for design criteria for Swiss NPPs.

[Eigene Übersetzung] PEGASOS Resultate liefern die besten standortspezifischen [probabilistischen Erdbeben-Gefährdungsannahmen / PSHA], die heute für Schweizerische Kernkraftwerke (KKW) verfügbar sind; die von PEGASOS hervorgebrachten Informationen repräsentieren die am besten geeignete Basis, um seismische Inputs für die Probabilistische Sicherheitsanalyse (PSA) und für die Auslegungskriterien bei Schweizer KKW zu entwickeln.

Die Aufsichtsbehörde spart auch bis heute nicht mit Eigenlob:

Mit dem PEGASOS-Projekt hält die Schweiz einen internationalen Spitzenplatz.

Nur: was nützt die beste Studie, wenn sie schlicht nicht angewendet wird?!

Auch das neue Kernenergiegesetz fordert den Stand der Wissenschaft unmissverständlich und seit 2009 sind probabilistische Gefährdungsannahmen „aus aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen“ im Detail gesetzlich vorgeschrieben und zwar ebenso ausdrücklich für „Kernanlagen in Betrieb“. Das ENSI hat sich weiterhin darum foutiert.

Fukushima zwingt zum Schnellschuss

Zurück zum Artikel:

2012, nach, Fukushima, bekam das Ensi jedoch ein Problem: Die Betreiber mussten ihre AKW auf deren Erdbebensicherheit überprüfen; die Richtwerte dazu lagen aber noch immer nicht vor. Das Ensi «löste» es damit, dass es den Betreibern erlaubte, für die Überprüfung die provisorischen Zwischenresultate des PRP zu verwenden. Nur: Diese stammten zumindest teilweise von den Betreibern selber und nicht von Erdbebenexperten.

Hintergrund: Insbesondere die lokale Bodengefährdung (Übertragung und mögliche Aufschaukelung der Erdbebenwellen im Baugrund) durften die AKW-Betreiber selber berechnen:

Given this issue, swissnuclear decided to discard the SP3 expert based models for the intermediate hazard for soil. […]  Thus, each NPP making use of the intermediate hazard results has to perform a simplified soil hazard evaluation at the surface and necessary depth levels independently […]

[Eigene Übersetzung] Deshalb entschied sich swissnuclear, die SP3 Experten-Modelle für das Zwischenresultat der Bodengefährdung zu verwerfen. […] Folglich muss jedes KKW unter Verwendung der Zwischenresultate [Anm. aus den vorgelagerten Teilprojekten] unabhängig eine eigene, simplifizierte Bodengefährdung an der Geländeoberfläche und in den notwendigen Tiefen erstellen […]

Probleme mit der „Verfeinerung“

Der Artikel beleuchtet die weitere unendliche Geschichte:

Nach jahrelangen Verzögerungen lieferte Swissnuclear die neue PRP-Studie Ende 2013 ab.  Seither, also schon seit über anderthalb Jahren, prüft sie das Ensi. Sowohl diese Studie wie auch ein Bericht, den Experten des Ensi – das sogenannte Reviewteam – dazu verfasst haben, sind geheim. Recherchen des «Bund» haben jedoch ergeben, dass das Reviewteam den für PRP aktualisierten Erdbebenkatalog kritisierte, das Verzeichnis der Erdbeben in der Schweiz. Genauer: die neue Formel, mit der die Beben in die gebräuchliche Momenten-Magnituden-Skala umgerechnet wurden. Insbesondere beanstandete das Expertenteam, dass nur eine einzige Formel verwendet wurde. Aber das widerspricht der Projektphilosophie im Kern: Diese sieht vor, dass jeweils unterschiedliche Forschungsmethoden gegeneinander abgewogen und berücksichtigt werden. Die Unsicherheiten, die sich aus verschiedenen Methoden ergeben; können dann bewertet werden.

Freilich sehen die Verfasser kein Problem:

Der Direktor von Swissnuclear, Philippe Renault, weist die Kritik auf Anfrage zurück: «Das Reviewteam beleuchtet Punkte, die wissenschaftlich interessant, aber in der praktischen Konsequenz wenig bedeutsam sind.» Er räumt zwar ein «Natürlich sind keine Unsicherheiten vorhanden, die man bewerten könnte, wenn nur eine einzige Umrechnungsformel verwendet wird. Für ein neues Projekt wäre es interessant, unterschiedliche Formeln zu berücksichtigen.»

Selbsterfüllung der Prophezeiung

Aber gerade die Reduktion von Unsicherheiten ist gemäss der Darstellung des ENSI entscheidend für eine Senkung der Gefährdungsannahme. Ja es war sogar die eigentliche Zielsetzung des PRP, die Unsicherheiten zu reduzieren. Das ENSI schrieb:

Es ist zu erwarten, dass die KKW-Betreiber zumindest einen Teil der im Rahmen der PEGASOS-Reviewarbeiten identifizierten Verfeinerungsmöglichkeiten umsetzen lassen werden, und dass dadurch die grosse Unsicherheit in den PEGASOS-Resultaten abnehmen und damit auch der Mittelwert der Gefährdung sinken wird.

Wenn man also Unsicherheiten durch solche „Abkürzungen“ eliminiert, scheint mir das schlicht eine gesteuerte „Selbsterfüllung der Prophezeiung“ zu sein. Mit dem deklarierten Ziel die Gefährdungsannahme zu senken. Das Vorgehen verstösst zentral gegen die heren Grundprinzipien mit welchen das ENSI das Verfahren preist (Methode SSHAC Level 4):

In Level 4 werden Literatur, Daten und Modelle von verschiedenen voneinander unabhängigen Experten bzw. Teams ausgewertet.

Elf Jahre erfolgreiche Verzögerungstaktik

Im Artikel fasst Sabine von Stockar von der Schweizerischen Energiestiftung zusammen:

«Es ist peinlich für das Ensi, dass immer noch kein gültiges Resultat vorliegt, obwohl wir schon seit 1999 wissen, dass der Schutz der Bevölkerung vor AKW~Unfällen auf veralteten Erdbebenzahlen beruht», sagt sie. Die PRP-Studie habe offenbar bloss zu neuer Unklarheit geführt. «Der eigentliche Skandal ist, dass das Ensi die Pegasos-Studie von 2004 nie richtig angewandt hat.»

Damit legt sie den Finger auf den wunden Punkt. Nur weil die Betreiber mit Hilfe der Atomaufsicht damals erfolgreich den gesetzlich geforderten „Stand der Wissenschaft“ ausgehebelt haben, sind diese Verzögerungen überhaupt ein Problem. Nach wie vor gilt: es müsste das damals allseitig akzeptierte PEGASOS mit seinen deutlich höheren Gefährdungsannahmen angewendet werden, solange das PRP nicht fertig und akzeptiert ist.

Das Ensi betont auf Anfrage, dass mit dem anspruchsvollen Projekt Pegasos in der Schweiz viel Pionierarbeit auf hohem Niveau geleistet wurde – dies durchaus zu Recht. Die konkret gestellten Fragen zur Anwendung der Pegasos-Studie und, den Problemen mit dem Nachfolgeprojekt PRP beantwortete die Aufsichtsbehörde jedoch nicht und fasste stattdessen frühere Medienmitteilungen zusammen. Den Entscheid zum PRP-Projekt will das Ensi vor Jahresende fällen.

Da bin ich ja gespannt, ob wir elf Jahre nach dem Vorliegen des Original PEGASOS endlich zu einem Abschluss kommen. In Fukushima haben ähnliche dokumentierte Verzögerungsmanöver der Pendants von ENSI und swissnuclear die nukleare Katastrophe entscheidend mit verschuldet. Lektion nicht gelernt.


[der Artikel wurde am 8.10.2015 geringfügig modifiziert]

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