Beznau: Ultraschall zeigt Materialfehler im Reaktordruckbehälter an
Reaktordruckbehälter (RDB) des AKW Beznau (Block 2). Quelle: Nukleares Dampferzeugersystem Perspektivische Ansicht, Abb. 1.2-9 (Ausschnitt), Sicherheitsbericht KKB 2, Band 1, 2002
Gemäss Mitteilung des ENSI wurden bei einer Ultraschalluntersuchung am Reaktordruckbehälter des AKW Beznau, Block 1 bewertungspflichtige Anzeigen festgestellt. Block 2 darf weiter betrieben werden bis zur Revision Mitte August, dann muss auch dessen Reaktordruckbehälter untersucht werden. Die Überprüfungen wurden angeordnet, nachdem in den belgischen AKW Doel-1 und Tihange-2 entsprechende Materialfehler festgestellt wurden.
Reaktordruckbehälter: Brennpunkt des AKW
Der Reaktordruckbehälter (RDB) ist das zentrale Behältnis, in welchem die Brennelemente angeordnet sind und wo die nukleare Kettenreaktion stattfindet. Dieser Kessel steht im Betrieb unter enormem Druck (155 bar, entspricht ca. dem 155-fachen des atmosphärischen Druckes). Beim Druckwasserreaktor (Beznau, Gösgen) ist der RDB vollständig mit nichtkompressiblem Wasser gefüllt und der Druck ist ungefähr doppelt so hoch wie beim Siedewasserreaktor (Mühleberg, Leibstadt), wo zudem ein kompressibles Dampfpolster sogenannte Wasserschläge innerhalb des RDB auffangen kann.
Bei gewissen Störfällen muss der Druckkessel zusätzlich auch einen Temperaturschock aushalten können, da gegebenenfalls sehr schnell, sehr viel kaltes Wasser eingeschossen werden muss, um die Brennelemente zu kühlen. Dieser sogenannte „Pressurized Thermal Shock (PTS)“ ist das Schreckgespengst alter Reaktoren, denn er stellt einen wunden Punkt dieser Technologie ins Rampenlicht: die Neutronenversprödung.
Neutronenversprödung: durch Strahlung gealtert
Die atomare Kettenreaktion wird bekanntlich durch einen kontrollierten „Schneeballeffekt“ erzeugt. Neutronen spalten Uran-Kerne, wobei zwei bis drei neue Neutronen freigesprengt werden, von welchen wiederum eines einen Uran-Kern so destabilisiert, dass er gespalten wird (usw). Im Innern eines Reaktors herrscht also ein immenser Neutronensturm. Die Neutronen bombardieren dabei auch unablässig die Reaktordruckbehälterwand, wobei die kristalline Struktur des Metalls nach und nach beschädigt wird.
Nach Jahren des Bombardements macht sich der Effekt als sogenannte Neutronenversprödung bemerkbar. Die Behälterwand wird spröder und damit brüchiger bei immer höheren Temperaturen. Die Empfindlichkeit gegenüber Temperaturschocks (PTS) nimmt zu. Allfällige Risse breiten sich in sprödem Material schlagartig über weite Bereiche aus. Ein direktes Versagen des RDB kann somit nicht mehr ausgeschlossen werden. Die Sicherheitssysteme des AKW sind nicht für einen solchen Fall ausgelegt. Es muss mit einem schweren Störfallverlauf und einer möglicherweise grossen Freisetzung radioaktiver Stoffe gerechnet werden.
Beim Block 1 von Beznau ist die Neutronenversprödung bereits weit fortgeschritten. Als dieser weltweit älteste noch in Betrieb stehenden Leistungsreaktor gebaut wurde, kannte man die negativen Konsequenzen der Neutronenversprödung noch nicht ausreichend (in der Industrie hielt man sie sogar für positiv). Bessere Legierungen wurden erst später entwickelt. Die sogenannte „justierte Sprödbruchtemperatur“ des unausgereiften RDB-Materials in Beznau Block 1 kommt bereits in die Nähe der Temperaturschocks von manchen Störfallberechnungen – und in die Nähe des Grenzwertes des gesetzlichen Ausserbetriebnahmekriteriums.
Die computergestützten Analysemethoden der Betreiber und der Aufsichtsbehörden sind zudem mit riesigen Unsicherheiten behaftet. Die Risiko-Ergebnisse der international etablierten Computerprogramme und Methoden streuen gemäss OECD-Vergleichsstudie um bis den Faktor 50! Mehr dazu (inkl. Quellenangabe) im Artikel Beznau 1: Freifeldversuch in Reaktoralterung→
Neue Ultraschallmessungen: Ausweitung des bekannten Risikos und Bestätigung der Unwissenheit
Durch die nun bei Ultraschallmessungen angezeigten Materialfehler muss wahrscheinlich ein Risiko von Rissbildungen bzw. -fortschreitungen in noch grösserem Umfang angenommen werden. Schlimmer noch: die Messungen bestätigen einmal mehr, dass Betreiber und Behörden bisher mit zu optimistischen Annahmen bezüglich des Zustandes und der Zähigkeit der Altanlagen gerechnet haben. Jederzeit können weitere, vorher unbekannte Faktoren auftauchen, welche bisher geäusserten Zusicherungen und Beschwichtigungen die Grundlage entziehen.
Die Frage stellt sich einmal mehr: ist die dicht bevölkerte Schweiz wirklich das geeignete Freilandlabor, um mit dem ältesten, am längsten bestrahlten, wahrscheinlich versprödetsten Leistungs-Reaktordruckbehälter der Welt an vorderster Front einen Alterungsversuch mit unbefristeter Bewilligung durchzuziehen?
Grafik: Bevölkerung in den Gemeinden rund um Beznau. Kreise: 30km (generelle Umsiedlungszone Fukushima) und 50km Umkreis (sektorweise Umsiedlungszone Fukushima).
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