Beznau 1: Freifeldversuch in Reaktoralterung

Im Heft 3/12 der Zeitschrift „Energie und Umwelt“ der Schweizerischen Energie-Stiftung ist mein Artikel „Beznau 1: Freifeldversuch in Reaktoralterung!“ erschienen (Seiten 16/17).

(Mein erster selbstgeschriebener Print-Artikel überhaupt)

In Beznau 1 steht der älteste Reaktor der Welt. Sein Reaktordruckbehälter ist aus unausgereiftem Material hergestellt. Die Neutronenversprödung führt dazu, dass der Behälter immer brüchiger wird. Noch nie war ein so alter, so grosser Reaktordruckbehälter so lange so stark bestrahlt worden. Wir betreiben in der Schweiz einen weltweit erstmaligen Freifeldversuch in Reaktoralterung!

Der Artikel will aufzeigen, dass bei betagten AKW nicht nur die veraltete, nie vollständig nachgerüstete Anlagenkonzeption eine Gefahr darstellt, sondern auch die über ihr Auslegungsalter hinweg betriebenen nuklearen Hauptkomponenten—wie eben der Reaktordruckbehälter—durch technologiespezifische Alterungsprozesse (Neutronenversprödung) immer unsicherer werden.

Diese Hauptkomponenten können nicht ausgewechselt oder saniert werden. Allen Beteuerungen der Betreiber über investiertes Geld zum Trotz, steigt das Risiko durch deren Versagen unablässig, je länger die Anlagen betrieben werden. Mehr dazu im Artikel (Seiten 16/17).

Hintergrund

Als Informatikingenieur habe ich mich besonders dafür interessiert, wie man eigentlich berechnen will, ab wann „es gefährlich wird“. Interessanterweise verweist das ENSI in seiner Stellungnahme zum Langzeitbetrieb auf einen entsprechenden Bericht der OECD, welcher vergleichend untersucht hat, zu welchen Analyseergebnissen verschiedene Experten und Aufsichtsbehörden (25 Teams) rund um die Welt (13 Länder) in Fragen des Reaktordruckbehälter-Sprödbruches (Pressurized Thermal Shock, PTS) kommen. Dazu wurden verschiedene, in der Nuklear-Branche meist seit Jahrzehnten etablierte und stetig weiter entwickelte Computerprogramme eingesetzt.

Die Gegenüberstellung von Analyseresultaten verschiedener, unabhängig entwickelter Computerprogramme ist sehr interessant, weil deren Übereinstimmung oder Streuung eine Aussage dazu ermöglicht, wie gefestigt und verlässlich die Simulationstechnik für die entsprechenden Frage ist.

Daneben kann auch einiges daraus abgelesen werden, wie viele Modellierungs-Fehler die Experten und Aufsichtsbehörden so machen (selbst wenn sie wissen, dass sie unter internationalem Vergleichsdruck stehen). Diplomatisch heisst das im Bericht dann „user effect“ oder „quality assurance problem“.

Das Ergebnis der OECD-Studie ist ernüchternd. Die Autoren der Studie bemühen sich redlich, diplomatische Worte für die teils wilden Abweichungen in den Resultaten sowie die zahlreichen „Qualitätsprobleme“ zu finden. Die Grafiken am Schluss des Reports sprechen teilweise eine deutliche Sprache.

Als Beispiel sei hier die berechnete bedingte Wahrscheinlichkeit eines Versagens des Reaktordruckbehälters, abhängig von der mittleren Sprödbruchtemperatur an der Oberfläche angeführt. Man stellt fest, dass die Ergebnisse um Faktoren von 20 bis 50 auseinanderliegen.

In the PFM Task Group, seven organizations from four countries performed 25 analyses and three parametric studies. The calculated conditional probabilities of crack initiation, especially for small values of RTNDT, have the largest scatter, i.e., about a factor of 100. For the conditional probability of vessel failure, this factor ranges from 20 to 50.

[Quelle: NEA-Report NEA/CSNI/R(99)3, Comparison report of RPV Pressurized Thermal Shock – International Comparative, Assessment Study (PTS ICAS), Committee on the Safety of Nuclear Installations, Nuclear Energy Agency, 1999, p. 59]

[RTNDT steht für „Reference Temperature for Nil Ductility Transition“ also „justierte Sprödbruch-Referenztemperatur“]

Das Nachfolgende Diagramm zeigt die Ergebnisse eines Vergleichs grafisch auf. Wichtig: das untersuchte Störfall-Szenario und die absoluten Sprödbruchtemperaturen sind nicht mit denjenigen vergleichbar, die ich im Artikel zu Beznau 1 nenne. Was man aber trotzdem ablesen kann, ist die ernüchternde Tatsache, wie uneinig sich Experten und Computerprogramme darin sind, wann ein Behälter bricht (man beachte, dass die Skala in der Vertikale logarithmisch und in der Horizontale mit Fahrenheit beschriftet ist).

[Quelle: NEA-Report NEA/CSNI/R(99)3, Comparison report of RPV Pressurized Thermal Shock – International Comparative, Assessment Study (PTS ICAS), Committee on the Safety of Nuclear Installations, Nuclear Energy Agency, 1999, p. 116]

[Rote Elemente hinzugefügt]

Für eine gegebene bedingte Versagenswahrscheinlichkeit von 1%* (im Diagramm mit 1.00E-02 beschriftet) variieren die vorausgesagten Sprödbuchtemperaturen von ca. 75°C bis 98°C, also um 23°C. Ein besonders beunruhigendes Resultat (A21) ist dabei als Ausreisser noch nicht einmal berücksichtigt!

Wie der Gesetzgeber nun bei Differenzen von wenigen Grad den „richtigen“ Zeitpunkt zur Ausserbetriebnahme vorbestimmen will, ist mir angesichts solcher Unsicherheiten schleierhaft (auch wenn die Szenarien des zitierten Berichts – wie gesagt – nicht direkt vergleichbar sind). Beznau 1 hat heute ca. 88°C, das Ausserbetriebnahmekriterium liegt bei 93°C.

Den Fragen, woher die 93°C kommen, warum sie etwa bei Siedewasser- und Druckwasserreaktoren trotz ganz unterschiedlicher Druckbelastung genau gleich vorgegeben sind, ob die 93°C umgerechnet auf Fahrenheit wirklich nur rein zufälligerweise der runden Zahl 200°F entsprechen, muss ich noch nachgehen.


*) Bei Erdbebenanalysen werden bedingte Versagenswahrscheinlichkeiten von ca. 1% als „akzeptabel“ vorgegeben (HCLPF).

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