100 Jahre organisierter Strahlenschutz (und niemand feiert)

Organisierter Strahlenschutz 1913-2007

Vor 100 Jahren wurden mit dem „Merkblatt 1913 der D. R. G. über den Gebrauch von Schutzmaßregeln gegen Röntgenstrahlen“ weltweit erstmals Weisungen herausgegeben, die man als organisierten Strahlenschutz bezeichnen kann.

Gerade noch im Jubiläumsjahr 2013 möchte ich hiermit eine lose Artikelserie über die Geschichte des Strahlenschutzes starten. 

Entdeckung der Röntgenstrahlen

Die Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895 schlug ein, wie eine Bombe. Es war wie ein Wunder: endlich konnten Ärzte „sehen“. Die Begeisterung war unermesslich.

Röntgenaufnahme von Wilhelm Röntgen von Albert von Köllikers Hand
Röntgenaufnahme: Albert von Koellikers Hand, aufgenommen von Conrad Röntgen am 23. Januar 1896 (Quelle: Wikipedia)

Die neue Technologie wurde an allen möglichen und unmöglichen Orten demonstriert und angewendet. Oft nur zur Unterhaltung und andere äusserst fragwürdige Zwecke. Sehr schnell wurden so auch die schädlichen Seiten der Strahlung evident. Man begann zunächst informell, erste Vorsichtsmassnahmen zu treffen. Aber selbstverständlich wollte sich niemand die neuen Möglichkeiten wieder nehmen lassen. Kein Arzt wollte wieder „erblinden“.

Ausserdem fand man auch für die schädigende Wirkung der Strahlung bald Anwendungen: von der Tumorbekämpfung bis zur Entfernung lästiger (weiblicher) Behaarung.

Röntgenstrahlung, Radioaktivität: ionisierende Strahlung

Kurz nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen (und offenbar davon sensibilisiert) wurde 1896 auch die Radioaktivität entdeckt. Die Ähnlichkeit der Effekte war von Anfang an evident. Später stellte man fest, dass die Strahlung aus verschiedenen Quellen (Röntgenröhren, Radioaktivität, etc.) als vergleichbar betrachtet werden kann, wenn man sich auf die effektive Einwirkung im Gewebe bezieht. Man spricht verallgemeinert von ionisierender Strahlung. Die sogenannten Gamma-Strahlen aus der Radioaktivität sind zudem auch physisch identisch mit Röntgenstrahlen gleicher Energie.

Auch die radioaktiven Stoffe (allen voran Radium) fanden rasch alle möglichen (und unmöglichen) Anwendungen:

Universal-Radium-Instrumentarium - nach Angaben Marie Curie - Naturhistorisches Museum Bern

Exponat Naturhistorisches Museum Bern. Universal-Radium-Instrumentarium: Köfferchen mit diversem medizinischem Gerät sowie Transport- und Bestrahlungsbehälter zur Radiumtherapie, Hergestellt in Berlin nach Angaben von Marie Curie, ca. 1910, Leihgabe Prof. U. M. Lütolf, Institut für Radio-Onkologie, Universität Zürich (perspektivisch entzerrt und montiert)

Das Merkblatt 1913

Erst mit dem Merkblatt 1913 der Deutsche Röntgen-Gesellschaft (DRG) scheint das Thema Strahlenschutz systematisch angegangen worden zu sein:

  1. Die öfter wiederholte Bestrahlung irgendeines Teiles des menschlichen Körpers mit Röntgenstrahlen ist gefährlich und hat auch schon mehrfach zu namhaften Schädigungen, ja sogar zum Tode von Röntgenärzten und anderen häufig mit Röntgenstrahlen arbeitenden Personen geführt. Deswegen ist es unbedingt nötig, daß sowohl derartige Personen selbst wie auch event. deren Vorgesetzte oder Arbeitgeber darauf sehen, daß in ihren Betrieben genügende Schutzvorrichtungen vorhanden sind, und daß alle diese Personen auch von der Notwendigkeit und dem Gebrauche dieser Vorrichtungen genügend unterrichtet sind. Letzteres dürfte am zweckmäßigsten dadurch erreicht werden, daß das vorliegende Merkblatt in allen derartigen Betrieben öffentlich ausgehängt wird.

Die Höhe einer Strahlendosis war im Merkblatt 1913 noch kein Thema, schon alleine deshalb, weil geeignete Messinstrumente, ja sogar eine etablierte Masseinheit für ionisierende Strahlung zu dieser Zeit fehlten. Das Merkblatt basierte noch ausschliesslich auf technischen Massnahmen (Abschirmung) und Verhaltensregeln:

  1. Als mindest erforderlicher Schutz gegen länger dauernde Bestrahlungen gilt eine Bleischicht von 2 mm Dicke, die so groß ist und so angebracht sein muß, daß sie mindestens die ganze Person gegen die direkte Strahlung der Röhre abdeckt. Das Blei ist seiner Giftigkeit wegen beiderseits mit Deckmaterial, wie Holz, farbigem Lack oder dergleichen zu bekleiden.
    […]
  2. Auch bei Anwendung einer solchen Schutzschicht ist es empfehlenswert — zumal wenn es sich um länger dauernde Bestrahlungen handelt — sich so weit als möglich von der im Betriebe befindlichen Röhre zu entfernen.

Erstaunlich „modern“ erscheint der letzte Paragraf:

  1. Jeder Assistent, Praktikant, Volontär, jede Krankenschwester und jeder vom übrigen Hilfspersonal hat das Recht, die Weisung, Röntgenarbeit ohne genügende Schutz-vorrichtungen auszuführen, abzulehnen. Eine solche Weigerung darf niemals den Grund zur Entlassung bilden. Dasselbe gilt für das Personal von Fabriken und Magazinen, die Röntgenapparate, -hilfsapparate und -röhren anfertigen oder verkaufen.

Quelle: Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, Ergänzungsband 32, Herausgeber: Prof. Dr. Albers-Schönberg, zitiert in „Die rechtliche Beurteilung der Röntgen- und Radiumschädigungen“ von Dr. med. et jur. Franz Kirchberg, 1914

Mit herzlichem Dank an das Deutsche Röntgenmuseum für die Zusendung und weitere Informationen.

icon_pdf Merkblatt 1913 der D. R. G. über den Gebrauch von Schutzmaßregeln gegen Röntgenstrahlen, zitiert

Mr. Radiation Protection

Die Erkenntnis, dass der organisierte Strahlenschutz 100 Jahre alt wird, stammt übrigens aus dem 2080-Seiten-Mammut-Werk „Organization for Radiation Protection, The Operations of the ICRP and NCRP 1928-1974“ von Lauriston S. Taylor. Der US-Amerikaner war derart lange treibendes und prägendes Mitglied der International Commission on Radiological Protection (ICRP) und des US-Pendants NCRP, dass er von Weggefährten liebevoll „Mr. Radiation Protection“ genannt wurde.

Einschub: Die ICRP ist das internationale Gremium, welches Empfehlungen zum Strahlenschutz herausgibt. Diese Empfehlungen werden dann von vielen Staaten (auch der Schweiz) mehr oder weniger automatisch in nationales Regelwerk übernommen.

Mit dem oben genannten Buch hat der „Mr. Radiation Protection“ auch gleich selber die autorative Geschichtsschreibung übernommen. Wer eine unabhängige Auseinandersetzung mit dem frühen Strahlenschutz bzw. dem Wirken von Taylor und seinen Kollegen sucht, wird kaum fündig: alle mir bekannten Bücher—auch die Kritischen—stützen sich weitgehend auf Taylor.

„Regarded as safe“

Es darf wohl als ausserordentliche Leistung der ersten, sich international organisierenden Strahlenschützer betrachtet werden, inmitten des Begeisterungstaumels über die neuen technischen/medizinischen Möglichkeiten auf deren Schattenseiten hinzuweisen, gegen Indifferenz, Bequemlichkeit und andere handfeste Interessen die ersten Schutzregeln durchzusetzen und sich schliesslich als international respektierte Autorität zu etablieren (und nicht etwa als „Spielverderber“).

Es erscheint auch nachvollziehbar, dass in diesen ersten Jahrzehnten tatsächlich ein Schutzniveau auf „der sicheren Seite“ gesucht wurde—ohne grosse Rücksicht auf die bisherige Praxis der Radiologie. Nach ihren informellen Beobachtungen über das Ausbleiben von Schäden bei damals üblichen Strahlenbelastungen, wählten die Experten einen nochmals um Faktoren niedrigeren Toleranzwert [Sievert 1925, Mutscheller 1925, Wintz und Rump 1931, ICRP 1934].

Heimtückische Spätfolgen

Leider kann der Strahlenschutz nach 100 Jahren trotzdem nicht als Erfolgsgeschichte gefeiert werden. Die heimtückische Schadwirkung ionisierenden Strahlung hat den Bemühungen der ersten Jahre einen grässlichen Streich gespielt.

Wie konnte das passieren?

Das lesen Sie im zweiten Teil…

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