ENSI prüft Angaben der KKW-Betreiber zur Erdbebengefährdung

Das Erdbeben in Basel, 10. Oktober 1356, Karl Jauslin

Das Erdbeben in Basel, 10. Oktober 1356, Gemälde von Karl Jauslin

Die neueste ENSI-Mitteilung zur Erdbeben-Gefährdung von AKW:

PEGASOS Refinement Project: ENSI prüft Angaben der KKW-Betreiber zur Erdbebengefährdung

Die Betreiber haben den Schlussbericht ihrer Erdbebenstudie, dem PEGASOS Refinement Project PRP, beim Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI eingereicht. Das ENSI wird die Angaben nun prüfen und anschliessend die neuen Gefährdungsannahmen festlegen. Diese werden den zukünftigen Erdbebennachweisen der Schweizer Kernkraftwerke zugrunde gelegt.

Das ENSI hat die Meldung 19:30 am Freitag vor dem verlängerten Weihnachts-Wochenende aufgeschaltet. Ein Schelm, wer denkt, mediale Aufmerksamkeit sei unerwünscht. Grund dazu gibt es: was hier abläuft ist eine sagenhafte „Unendliche Geschichte“, welche das ENSI wohl lieber nicht im Detail diskutiert.

Ich habe zu diesem Anlass meinen Bericht erneuert, damit die Fakten nicht ganz vergessen gehen:

Neubestimmung der Erdbebengefährdung in der Schweiz:
Die „Unendliche Geschichte“ des PEGASOS- Projektes

Zusammenfassung

1977 wurden die Erdbebengefährdungsannahmen (anzunehmende Stärke der Erdbeben, je nach deren Häufigkeit) für die Schweiz erstmals wissenschaftlich bestimmt. Seither werden Bauwerke aller Art nach diesen Annah­men gebaut und geprüft.

Schon länger war bekannt, dass diese Annahmen nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entspre­chen. 1998 wurde schliesslich eine Studie zur Neubestimmung der Erdbebengefährdung angeordnet. Das sogenannte „PEGASOS“ Projekt wurde von international führenden Experten durchgeführt, 2004 fertig gestellt und von der Aufsichtsbe­hörde auch offiziell akzeptiert. Die HSK (heute ENSI) lobte die weltweit führende Methodik und das Ergebnis und bemerkte einzig an, die „Unschärfe“ der Progno­sen sei relativ gross.

PEGASOS zeigte eine massiv höhere Erdbebengefährdung auf, so etwa um den Faktor 2.6 stärkere Erdstösse beim AKW  Mühleberg.

Sofort gab es eine beispiellose Kaskade der Gegenwehr von Seiten der AKW-Betreiber. Zuerst wurde ein regelrechter akademischer „Kleinkrieg“ gegen die PEGASOS-Studie angezettelt. Mit wenig wissenschaft­lichem Erfolg zwar, aber die Aufsichtsbehörde liess sich trotzdem bisher drei Mal erwei­chen, immer längere Nachfolgestudien anzuhängen.

All dies blieb drei Jahre lang vor der Öffentlichkeit verborgen, erst 2007 wurden einige Resultate der ursprünglichen Studie vom ENSI veröffentlicht und gleichzeitig angekündigt, die Nachfolgestudie werde noch dauern.

Zwischenzeitlich mussten die Ergebnisse von 2004 nur bei den rechtlich praktisch unverbindlichen Probabilisti­schen Störfallanalysen (PSA) und dort nur mit 20% Ab­zug angewendet werden. Unter der Hand erlaubte die Aufsicht den Betreibern zudem, die Stärke ihrer Bauwerke und Ausrüstungen um 50% erhöht anzurech­nen. „Amtlich bewilligte Trickserei“ lautete die Schlagzeile, als ich diese Tatsa­che enthüllte.

Bei den rechtlich verbindlichen Nachwei­sen (d.h. solche die zu einer Ausserbetriebnahme führen könnten) wurden die AKW bis und mit EU Stresstest mit den viel zu tiefen Uralt-Zahlen von 1977 getestet.

Nach Fukushima (aber erst nach dem EU Stresstest) musste nun endlich nach „neueren“ Werten gerech­net werden. Dazu wurden Zwischenresul­tate („Intermediate Hazard“) aus der PEGASOS Nachfolge­studie (PRP) verwendet. Diese Zahlen weisen gegen­über der Original Studie um ca. 40% tiefere Werte aus (Beispiel Mühleberg). Es wurde ein grosser Teil der internationalen Expertenmo­delle ausge­klammert und ein Teilprojekt sogar ganz weggelas­sen. Stattdessen hat man an diesen Stellen Annahmen des AKW-Verbandes swissnuclear (welche die Studie leitet) und Rechenmodelle der AKW-Betreiber verwendet.

Aktuell vernehmen wir vom ENSI, dass es erneut erst einmal die Resultate des PEGASOS Refinement Project prüft und es lässt sich dafür noch einmal Zeit bis zur zweiten Hälfte 2014, aber nur „voraussicht­lich“. Erst nachher werden die Betreiber, ihre Anlagen erneut überprüfen müssen.

Die lange Nachprüfzeit ist übrigens überhaupt nicht nachvollziehbar, hat das „Review Team“ des ENSI doch die Studie gemäss deren Design (SSHAC Level 4) laufend und verbindlich prüfen müssen.

Wir stellen fest: 15 Jahre nach der Anordnung der Behörden und im zehnten Jahr nach dem erfolgrei­chen Abschluss der eigentlichen Studie werden noch immer nicht Gefährdungsannahmen nach dem Stand der Wissenschaft und Technik verwendet. In der Schweiz kann man wissenschaftliche Erkennt­nisse auch der weltweit hochkarätigs­ten Wissenschaftler nicht gegen die Interessen der AKW-Lobby zur Anwen­dung bringen.

Genau diese Verzögerungstaktik zwischen Betreibern und Aufsicht wird von der Japanischen Untersu­chungskommission als eine der massgeblichen Ursachen für die Katastrophe in Fukushima beschrieben und identifiziert. Die Ähnlichkeit der Vorgehen ist erschreckend.

Die Details und Belege zur hier wiedergegeben Zusammenfassung finden Sie im Bericht. Zum aktuellen „Kapitel“ der ENSI Mitteilung:

Aktuelles Kapitel der „Unendlichen Geschichte“

Mit nochmaliger Verzögerung um ein Jahr, scheinen die PRP Resultate erst einmal beim ENSI vorzuliegen. Das ENSI lässt sich nach der Ankündigung Zeit bis in die zweite Hälfte 2014, um die Studie erst einmal zu prüfen. Die lange Nachprüfzeit ist übrigens überhaupt nicht nachvollziehbar, hat das „Review Team“ des ENSI doch die Studie gemäss deren Design (SSHAC Level 4) laufend und verbindlich prüfen müssen .

Das ENSI liefert in der aktuellen Medienmitteilung auch die folgende, unhaltbare Aus¬sage:

In der Schweiz liegt die Verantwortung für die Sicherheit von Kernanlagen beim Betreiber. Dieser muss von Gesetzes wegen nachweisen, dass seine Anlage sicher ist. Das ENSI verlangt entsprechend bei den Betreibern Studien und Nachweise und legt dafür die Randbedingungen fest. Deshalb ist es auch Aufgabe der Betreiber, die Studien zu möglichen Gefährdungen – wie in diesem Fall Erdbeben – zu erstellen.

Die Gefährdungsannahmen sind zu den Randbedingungen zu zählen und liegen selbstverständlich im Verantwortungsbereich des ENSI bzw. von zuständigen, unabhängigen Stellen (Bundesbehörden, etc.) und nicht der Betreiber. Die Aussage des ENSI widerspricht beispielsweise diametral der BAFU-Meldung von vor zehn Tagen, man werde für „Extremhochwasser an Aare und Rhein“ die „Grundlagen für die Gefährdungsbeurteilung“ ausarbeiten .

Genau wie in Fukushima

Die gesamte „Unendliche Geschichte“ hat in der Nuklearbranche international System: nach Fukushima hat in Japan die parlamentarische Untersuchungskommission genau denselben Verzögerungstaktik und Einflussnahmeprozess mit als entscheidende Ursache der Katastrophe identifiziert:

[Englische Version im Bericht]
Eigene Übersetzung:

Der Grund, warum [der Fukushima Daiichi Betreiber] TEPCO das signifikante Risiko des Tsunami übersehen hat, liegt bei seiner Risikokultur—in welcher die Interpretation von Sachverhalten oft zurechtgebogen wurde, um den Eigeninteressen zu dienen. In einer gesunden Risikomanagement-Struktur berücksichtigt und implementiert das Management vorsorgliche Massnahmen für Risiko-Ereignisfälle, die eine unbestreitbare Wahrscheinlichkeit haben, auch dann, wenn Details noch wissenschaftlich zu bestätigen sind. Statt diese bekannten Fakten zu berücksichtigen und schnell Vorsorgemassnahmen umzusetzen, setzte die TEPCO auf eine Verzögerungstaktik, wie das Präsentieren von alternativen Studien und das Lobbyieren.

In Japan mussten die Betreiber für ihre Verzögerungstaktik immerhin zuerst noch “Alternative Studien” ausarbeiten. Hier in der Schweiz kennt man dagegen gar keine Hemmungen mehr. Man überliess es nach deren heftigen Intervention ganz einfach den Betreibern selber (bzw. deren Verband swissnuclear), die Gefährdungsannahmen zu erstellen.

Vollständiger Bericht mit weiteren Details, Belegen (und Fussnoten):

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