AKW darf betrieben werden, solange „sicher“

Ursprünglich war diese Vertiefung Teil des Artikels „Nukleare Sicherheit soll aufgeweicht werden„. Sie wird hier nun abgetrennt wiedergegeben.

Baustelle Mühleberg KKM Containment-Teile
Foto: Baustelle Atomkraftwerk Mühleberg. Quelle: Staatsarchiv Bern, FI Losinger 3105/5

AKW darf betrieben werden, solange „sicher“

In manchen Ländern wie den USA, Grossbritannien oder etwa Finnland haben AKW befristete Bewilligungen. In diesem Regime werden Sicherheitsüberprüfungen schwerpunktmässig bei der Erteilung der Bewilligung vorgenommen und es ist tatsächlich so, dass der Inhaber danach einen gewissen Bestandesschutz geniesst, also neue Erkenntnisse zur Sicherheit nur noch eingeschränkt zu Nachrüstforderungen oder Stilllegung führen können. Umgekehrt verliert der Bewilligungsinhaber nach Ablauf der Frist grundsätzlich den Anspruch auf den Weiterbetrieb und muss erneut weitreichende Nachweise (und Nachrüstungen) erbringen, um die Bewilligung zu verlängern. Es kommt nicht von ungefähr, dass beispielsweise in Grossbritannien 30 von 45 AKW stillgelegt wurden.

Ganz anders bei den Schweizer AKW, sie haben eine unbefristete Bewilligung. Wie lange ein AKW betrieben werden darf hängt davon ab, ob es noch als „sicher“ gilt, oder nicht. Im Gegenzug zur unbefristeten Bewilligung, sollte es eigentlich keinen Bestandesschutz geben. Sollte.

Sicherheitstechnische Laufzeit

Aber warum sollte ein AKW, das jahrzehntelang als „sicher“ galt, plötzlich „unsicher“ werden?

Es gibt grob gesagt zwei mögliche Ursachen:

  1. Alterung: Teile des AKW werden alters- oder gebrauchsbedingt geschwächt, so dass die Sicherheit ab ein bestimmten Punkt nicht mehr gewährleistet ist.
  2. Veraltung: Gefährdungsannahmen (Beispiele: Erdbeben, Hochwasser), Analyse-Methoden und/oder Randbedingungen (Beispiel: langanhaltender Ausfall der externen Stromversorgung) werden auf Grund der Erfahrung (etwa bei AKW-Unfällen) oder nach dem fortschreitenden Stand der Wissenschaft und Technik verschärft, so dass eine erneute Sicherheitsanalyse zu einem gegenteiligen Schluss kommt.

Auch die Veraltung ist relevant. Wenn das ENSI heute im Richtlinienentwurf allen Ernstes schreibt, es gälten „die zum Zeitpunkt ihrer Errichtung von der Aufsichtsbehörde akzeptierten“ Anforderungen, dann muss dies vor allem bei den Alt-AKW Beznau und Mühleberg vor dem historischen Hintergrund gesehen werden. Roland Naegelin, vormaliger Direktor der Atomaufsicht, schrieb:

Als die NOK im Frühsommer 1964 ein Standortgesuch für einen amerikanischen Siede- oder Druckwasserreaktor in Beznau einreichte, gab es weltweit und auch in den USA kaum schon offizielle formale Regelwerke über Sicherheitsanforderungen an solche Anlagen. Die KSA [Anm.: heute ENSI] suchte deshalb den Kontakt zu den amerikanischen Sicherheitsbehörden und nutzte im September 1964 die Gelegenheit zu einem ausführlichen Fachgespräch mit einem leitenden Vertreter der USAEC, Clifford K. Beck, dem stellvertretenden Direktor von deren „Division of Regulations“ [KSA 1964-10-15].

Die erste Ausgabe der „General Design Criteria“ (GDC) der USAEC erschien im November 1965, mit Frist für Bemerkungen bis zum Februar 1966. Die unter Berücksichtigung der eingegangenen Bemerkungen erstellte zweite Ausgabe trägt das Datum Juli 1967. Die Ausgabe 1971 erschien als Appendix A im Part 50 der Gesetzessammlung „10 Code of Federal Regulation“ (CFR). Dieses Dokument enthält auf 32 Seiten 4 Definitionen und 55 Sicherheitskriterien. Haupttitel sind: Allgemeine Anforderungen, Schutz durch mehrfache Spaltprodukt-Barrieren, Schutz- und Reaktivitätssteuerungs- Systeme, Flüssigkeitssysteme, Reaktor Containment, Brennstoff und Radioaktivitätsüberwachung [AEC 1971].

[Geschichte der Sicherheitsaufsicht über die schweizerischen Kernanlagen 1960-2003, R. Naegelin, Seite 141]

Es ist also völlig inakzeptabel, „die zum Zeitpunkt ihrer Errichtung“ geltenden Anforderungen nach 50 Jahren gleichsam über die Hintertür einer ENSI-Richtlinie wieder einzuführen—mutmasslich um unbequeme Rechtsverfahren auszuhebeln.

Trotzdem: allen ist klar, dass alte AKW nicht den Standards allerneuester AKW genügen. Es stellt sich also die Frage, wo denn ein Unterschied gemacht wird.

Abgestufter Begriff der Sicherheit

Was heisst denn hier „sicher“? Der Wechsel von „unsicher“ nach „sicher“ erfolgt nach dem Schweizer Kernenergiegesetz abgestuft:

Im Sinne der Vorsorge sind alle Vorkehren zu treffen, die:

a. nach der Erfahrung und dem Stand von Wissenschaft und Technik notwendig sind;

b. zu einer weiteren Verminderung der Gefährdung beitragen, soweit sie angemessen sind.

Diese Konzeption stellt also mit a. eine harte rote Linie auf, unter welcher ein AKW ganz klar als unsicher gilt, weshalb Vorkehren zwingend notwendig sind. Oberhalb der roten Linie gibt es aber mit b. auch noch einen „Graubereich“, wo zwar bereits ein Defizit festgestellt wird, dieses aber nur soweit angemessen und unter Gewährung einer Frist zu beheben wäre. Bei korrekter Anwendung ist es folglich auch ausgeschlossen, dass ein AKW etwa durch graduelle Alterung von einem Tag auf den anderen unsicher wird. Vielmehr wird ein zunehmendes Sicherheitsdefizit festgestellt bzw. prognostiziert, welches präventive Massnahmen auslösen sollte, lange bevor die rote Linie erreicht ist.

In dieser Zweistufigkeit ist auch die Nachsicht für alte AKW berücksichtigt: die rote Linie ist ein Sicherheitsminimum, welches niemals unterschritten werden darf. Oberhalb jedoch, müssen alte AKW nur nachgerüstet werden, soweit dies zu einer weiteren Verminderung der Gefährdung beiträgt und angemessen ist. Es werden also auch die finanziellen Aspekte berücksichtigt, alte AKW müssen nicht koste-es-was-es-wolle nachgerüstet werden, nur weil es auf dem Markt eine neue Sicherheitsvorkehrung (z.B. den Core Catcher) gibt.

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Folien: Referat ENSI-Direktor Dr. Hans Wanner an der SES-Veranstaltung „Raus aber sicher“, 2013

Seit 1959 so im Gesetz

Dieses Prinzip ist keinesfalls neu. Es galt schon seit dem ersten Atomgesetz von 1959 und deshalb kann auch niemand behaupten, das Gesetz sei verschärft und die „armen“ AKW-Betreiber dadurch geschädigt worden. Nicht das Vorsorgeprinzip hat sich geändert, sondern dessen gerichtliche Überprüfbarkeit. Roland Naegelin, vormaliger Chef der Atomaufsicht, versichert denn auch, die Anforderungen seien schon immer so angewendet worden:

Anforderungen an neue und bestehende Anlagen

Das Atomgesetz 1959 enthält die zwei Kriterien «notwendig» (Art. 10 und 8.2) und «zumutbar» (Art. 7.1) für die an die bauliche und betriebliche Gestaltung zu stellenden Sicherheitsanforderungen an Kernanlagen. Die Sicherheitsbehörden haben diese beiden Kriterien – im Hinblick auf eine bestimmte Sicherheitsmassnahme – stets im Sinne von «oder» und nicht etwa von «und» (wie gelegentlich von Kernenergiekritikern unterstellt) angewendet. Eine Massnahme wurde somit immer gefordert, wenn sie für das Erreichen des verlangten Sicherheitsniveaus (Grenzwerte, Stand der Technik, Risiko, etc.) notwendig war, darüber hinaus aber auch dann, wenn mit einem für den Betreiber zumutbaren Aufwand die Sicherheit noch weiter merklich verbessert werden konnte.

[Geschichte der Sicherheitsaufsicht über die schweizerischen Kernanlagen 1960-2003, R. Naegelin, Seite 22]

Unverzügliche Ausserbetriebnahme wenn unsicher

Ebenfalls schon länger versicherten die Aufsichtsbehörden, sie würden ein AKW ausser Betrieb nehmen, wenn gewisse Kriterien nicht eingehalten werden (die im August 2000 publizierten Kriterien gingen sogar weiter als die heute gültigen):

In Abweichung von Botschaft und Entwurf des Bundesrates wurden dann vom Parlament die sogenannten Ausserbetriebnahmekriterien direkt ins neue Kernenergiegesetz geschrieben…

… bei deren Erfüllung der Bewilligungsinhaber die Kernanlage vorläufig ausser Betrieb nehmen und nachrüsten muss.

Diese Ausserbetriebnahmekriterien wurden in der Kernenergieverordnung und schliesslich in der Ausserbetriebnahmeverordnung konkretisiert und 2008 in Kraft gesetzt. Erstmals gibt es also gesetzlich festgeschriebene, zwingende und „unverzügliche“ Konsequenzen, wenn die Sicherheit bei diesen Kriterien unter die rote Linie fällt.

Und genau an diesem Punkte setzen unseren Rechtsverfahren (s.o.) an. Das Erreichen oder Nichterreichen solcher Ausserbetriebnahmekriterien ist die zentrale Frage. Überprüft wird dies mittels einer Störfallanalyse. Man spielt die gesetzlich vorgegebenen Störfälle modellhaft durch und prüft, ob alle Schutzziele eingehalten werden. Es gibt dazu ein umfangreiches internationales und nationales Regelwerk.

… oder doch nicht?

Wie man sich leicht denken kann, steht und fällt die Qualität dieser Störfallanalysen mit der Einhaltung der „Spielregeln“, die dabei gelten sollen. Wenn nun, wie oben dargelegt, die Eingangsdaten (Gefährdungsannahmen) und Auslegungsgrundsätze, sprich wesentliche „Spielregeln“ derart systematisch aufgeweicht werden, also an alles entscheidenden Stellen der Zusatz „soweit angemessen“ gilt, dann kann letztlich praktisch jeder Sicherheitsnachweis wunschgemäss „erbracht“ werden. Selbst wenn das ENSI einmal hart bleiben würde, liefert dieser unscheinbare Zusatz einem Blankoscheck für langwierige gerichtlichen Anfechtungen durch den AKW Betreiber.

Die Befürchtung, Schweizer AKW könnten in der Praxis gar nicht aus Sicherheitsgründen ausser Betrieb genommen werden, ist berechtigt. Zu hoffen, die fehlende Wirtschaftlichkeit werde es schon richten, ist ein Spiel mit dem nuklearen Feuer.

ENSI finster

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