SonntagsZeitung: „Zufallsfund: Radioaktives Cäsium am Grund des Bielersees“

Bielersee - Segeln mit dem Laser 4000Bielersee: auch beim Segeln nimmt man ab und zu einen Schluck (Autor mit Laser 4000).

Im Artikel „Zufallsfund: Radioaktives Cäsium am Grund des Bielersees“ vom 14.7.2013 schreibt die SonntagsZeitung über einen im Sediment zufällig von Forschern gefundenen „Peak“ von Cäsium-137 Ablagerungen. Von Catherine Boss und Titus Plattner.

Geologen überzeugt: Verseuchtes Material kommt vom AKW Mühleberg. Im Fall einer Havarie existiert kein funktionierendes Notfallsystem für die Aare – Bieler Trinkwasser wird nicht auf Radioaktivität untersucht.

Nach den Messungen zu urteilen ist zwar die zusätzliche Belastung eher als gering einzuschätzen. Fachleute geben Entwarnung:

Angefragte Fachleute sind sich einig, dass die Menge an Cäsium, die hier in den See gelangt ist, keine unmittelbare Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung darstellt – auch für jene nicht, die das cäsiumhaltige Wasser damals tranken.

Der sensibilisierte Leser bemerkt hier das Wort „unmittelbar“. Es ist klar: „unmittelbar“, also „sofort“ wird von mittleren und tiefen Dosen radioaktiver Strahlung niemand in seiner/ihrer Gesundheit geschädigt. Der Satz gehört also zum Standardrepertoir von Experten für radioaktive (ionisierende) Strahlung. Er dient ausschliesslich der Beruhigung der uninformierten Bevölkerung und hat wissenschaftlich gesehen Null Aussagekraft, kann also jederzeit gedanken- und gefahrlos geäussert werden.

Übrigens ist auch die nächste Aussage unverfänglich:

«Ich würde dieses Wasser, ohne zu zögern, trinken», sagt François Bochud, Direktor am Institut für Radiophysik am Universitätsspital Lausanne.

Eine interessante Nachfrage wäre, ob er das auch täglich für den Rest seines Lebens machen würde (wie die Anwohner des Bielersees). Die Krebserregung durch ionisierende Strahlung ist ein „digitales“ Risiko: entweder man hat Krebs oder nicht. „Ein bisschen Krebs“ gibt es nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass man Krebs bekommt, steigt mit der Dosis. Hier also mit der aufsummierten Menge getrunkenes Wasser über das ganze bisherige Leben (wobei in den ersten Lebenswochen bzw. -jahren für Föten bzw. Kinder eine stark erhöhte Gefährdung besteht).

Zunächst genügt es, wenn die Strahlung eine einzige auf Krebs umprogrammierte Zelle erzeugt. Diese muss sich dann noch über Jahrzehnte vermehren, bis der Krebs überhaupt feststellbar und zum Gesundheitsproblem wird (es gibt Ausnahmen wie Blutkrebs, wo es schneller geht). Es gibt also eine sog. „Latenzzeit“ von Jahrzehnten zwischen Verstrahlung und Schaden. „Unmittelbar“ besteht im mittleren und tiefen Dosisbereich also nie eine Gefahr*.

Immerhin fügt der Experte noch korrekt an:

Trotzdem sei klar, dass jede zusätzliche Menge im Körper das Krebsrisiko ein bisschen erhöht und deshalb zu vermeiden sei.

Auch wenn die zusätzliche Gefährdung der Bevölkerung tatsächlich gering sein sollte, zeigt der Artikel einmal mehr drastisch auf, welche Merkwürdigkeiten sich unsere Atom-Behörden immer wieder leisten können:

Weshalb um das Jahr 2000 erhöhte Cäsium-Werte gemessen werden, kann auch das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) nicht erklären. «Die Ursache des kleinen Peaks können wir nicht eindeutig identifizieren», sagt Sprecher Sebastian Hueber.

Trotz einem neuen Messsystem sind also grössere Mengen Cäsium in den Bielersee gelangt, ohne dass es jemand registriert hat.

Die damaligen Behördenberichte sind lückenhaft. Die Messdaten über Radioaktivität in der Luft rund um die AKW beispielsweise fehlen für das Jahr 1998 komplett. «Es gab einen Back-up-Fehler. Die Daten sind verloren gegangen», sagt Hueber.

Da staunt der Laie (und der Informatikingenieur wundert sich).

Bei den Messungen des Wassers und der Sedimente treten immer wieder technische Probleme auf, werden Ungereimtheiten auf Pannen zurückgeführt. 1998 wurde beim Hagneckkanal [Anm: Aaremündung in den Bielersee] «wegen technischer Probleme» gar nicht gemessen. Im Jahr 2000 massen die staatlichen Kontrolleure für einzelne Monate sehr hohe Cäsium-Werte, doch das AKW gab an, nur geringe Mengen abgelassen zu haben. Die Diskrepanz führte Jürg Beer von der Eawag auf Messfehler zurück. Feine Partikel und Sand hätten Leitungen verstopft. Es sei nur an einzelnen Tagen gemessen worden – «möglicherweise» gleich dann, als das Werk erhöhte Radioaktivität abgegeben habe.

Das ENSI sieht selbst in dieser Situation keinen Anlass zur Transparenz:

Die SonntagsZeitung wollte dem nachgehen. Doch die detaillierten Berichte, die zeigen, wann genau das AKW erhöhte Radioaktivität in die Aare abgelassen hat, gibt das Ensi nicht heraus.

Ich enthalte mich mit Mühe deutlicher Worte. Stattdessen gehe ich jetzt in den See. Den Neuenburgersee.

Fischli im Neuenburgersee
Fischli im Neuenburgersee; Foto: meine Tochter (8).


* Absatz zur besseren Erklärung hinzugefügt am 16.7.2013

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