Faktencheck: „Die Schweiz hat die sichersten Kernkraftwerke der Welt“
Hans Wanner, ENSI-Direktor und Andrej Stritar ENSREG-Vorsitzender am EU Stresstest Public Meeting, Brüssel, 2012
Im internationalen Vergleich Spitze?
Immer wieder verweisen Gegner des geordneten Atomausstieges darauf, internationale Experten hätten den Schweizer AKW ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt. Diese Äusserungen kommen etwa von Bundesrätin Doris Leuthard (Abstimmungssendung Arena, Zeitmarke 6:38):
Für das haben wir eine höchstmögliche Sicherheit, so hoch, dass auch in den europäischen Vergleichen unsere Kernkraftwerke sehr, sehr gut dastehen.
Später bei Zeitmarke 16:49*:
Wir haben im Europäischen Stresstest mitgewirkt, damit wir eben auch von dort eine Meinung bekommen, wie beurteilen sie den Sicherheitszustand der Schweizer Kernkraftwerke, inklusive Beznau: Hervorragend abgeschnitten.
Und sie gipfeln etwa in der Behauptung der Atomkraftbefürworter vom Dienst, die derart extrem gegen jede Energiewende sind, dass sie die Bundesrätin als Atomgegnerin betrachten und unter die kalte Dusche stellen möchten (kaltduschenmitdoris.ch):
Die Schweiz hat die sichersten Kernkraftwerke der Welt. Das sagt die internationale Atom Energie Agentur der UNO (IAEA). Und das sagen die Stresstests der EU.
Solcherlei Behauptungen werden dann immerhin auch 1:1 abgedruckt in Publikationen wie der Gewerbezeitung.
Der EU Stresstest soll es belegen
Auch das ENSI meldet: „EU-Stresstest: Schweizer KKW schneiden im europäischen Vergleich gut ab“. Sogleich muss es dann aber einräumen dass die Schweizer Anlagen gar nicht von der EU-Kommission bewertet oder verglichen wurden:
Die EU-Kommission verlangt von allen Kernkraftwerken in der Europäischen Union Verbesserungsmassnahmen. Zu den Schweizer Anlagen nimmt sie nicht Stellung.
Das ENSI hat dann kurzerhand selber einen Vergleich vorgenommen, zwecks Eigenlob:
Ein Vergleich der EU-Stresstestdaten zeigt aber: Die Schweizer Kernkraftwerke schneiden sehr gut ab.
Dennoch: es interessiert, wie die besagten „EU-Stresstestdaten“ entstanden sind.
Lektionen aus Fukushima?
Zur Erinnerung: der EU Stresstest wurde wegen Fukushima durchgeführt. Die Lektion Nummer 1 aus Fukushima besteht darin, dass der Tsunami, bedingt durch das Erdbeben, mit Höhe 14 Meter statt der offiziellen Gefährdungsannahme von 5.7 Meter kam:
Bild: ENSI-AN-7669, Abb. 4: Auslegung und Anlage von Fukushima Dai-ichi und tatsächliche Tsunamihöhe
Nun wäre eigentlich zu erwarten, dass man daraus etwas lernt und als erstes die Gefährdungsannahmen hinterfragt. Fehlanzeige! Die Vorgabe durch das ENSI lautet:
Im Unterschied zu den meisten Ländern Europas wurden in der Schweiz die Gefährdungen durch Erdbeben und Hochwasser aufgrund der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse neu bestimmt.
[…] Diese Nachweise gehen weit über den Geltungsbereich der EU-Stresstests hinaus. Für die Vergleichbarkeit im europäischen Kontext sind für die Stresstests deshalb grundsätzlich die der Auslegung zugrunde gelegten Gefährdungsannahmen zu verwenden.
Sogleich sieht man, dass es dem ENSI beim Stresstest nie um eine echte Sicherheitsüberprüfung nach Stand der Wissenschaft und Technik oder bestem Wissen und Gewissen ging, sondern von Anfang an um die „Vergleichbarkeit im europäischen Kontext“. Sprich: um das gute Abschneiden der Schweizer AKW und der [angeblich] schon bisher strengen Aufsichtsbehörde.
Erdbebengefährdung von 1977 wieder ausgegraben
Für den EU Stresstest holte das ENSI also wider besseres Wissen die alten Gefährdungsannahmen von 1977 aus der Mottenkiste. Dass diese uralten Erdbebengefährdungsannahmen (Spitzenerdbeschleunigungen) in der Schweiz um den Faktor zwei bis drei zu gering angesetzt waren, wusste man seit mindestens 2004. Gleiches gilt folglich—in Analogie zum Tsunami—auch für erdbebenbedingtes Hochwasser etwa durch Staumauerbruch (Beispiel: bei Mühleberg liegt eine Flussbiegung oberhalb des AKW die 20 Meter hohe Wohlenseestaumauer).
AKW Mühlberg, eine Flussbiegung unterhalb der Wohlenseestaumauer. Luftaufnahme: Birdcam Solutions, im Auftrag von energisch.ch
Es ist klar: wer einfach nochmals dieselben Gefährdungsannahmen wie früher durchrechnet, wird schlicht zum vorweggenommenen, gleichen Ergebnis kommen. Das passt indes zum Aufsichts-Motto des ENSI-Direktors Hans Wanner:
Die Frage ist, welche Arbeitshypothese wir unserer Aufsichtsfunktion zugrunde legen. Zwei Varianten stehen zur Wahl: Entweder „Die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich sicher“ oder „die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich unsicher.“
Wir gehen, wie ich schon verschiedentlich dargelegt habe, von der ersten Arbeitshypothese aus, die wir in einem laufenden internen Prozess fortdauernd mit Daten und Fakten untermauern.
Ich sage dazu nur: Bestätigungsfehler.
Der Schweizer EU Stresstest ist also bereits dem Gesichtspunkt der Vorgaben des ENSI weitgehend zur Makulatur verkommen. Die angeblich hohen Sicherheitsmargen sind denn auch schlicht der wissentlich zu tief angesetzten Gefährdungsannahme zuzurechnen. Ebenfalls klar: aus dem Schweizer EU Stresstest können keine nach dem Stand der Wissenschaft und Technik belastbaren Schlussfolgerungen zur angeblichen Sicherheit der AKW gezogen werden.
Dabei kann es auch offen bleiben, ob die „meisten Länder Europas“ tatsächlich ebenfalls derart veraltete Gefährdungsannahmen verwendet haben bzw. ob diese historisch ebenfalls massiv zu tief angesetzt waren (die Erdbebengefährdung in der Schweiz ist generell höher/relevanter als in den meisten AKW-Nationen Europas).
Wie dem auch sei: der schlechte Massstab der „meisten“ disqualifiziert die Schweiz schon im Ansatz von den „Besten“.
Aber damit nicht genug.
Lästiges Problem: nicht erdbebenfeste Gebäude
Beispiel AKW Mühleberg: es ist seit Jahrzehnten bekannt, dass diverse Hilfsgebäude der Anlage selbst die alten, tiefen Erdbeben-Annahmen von 1977 nicht verkraften können. Denn diese Gebäude wurden Ende der 60er noch nach ganz normalen Baunormen geplant und gebaut (analog übrigens bei Beznau).
Bild: Baustelle AKW Mühleberg am 21.8.1968, Staatsarchiv Bern, N.P. Böhm 14
Seit 1991 wurde deshalb bei Erdbebennachweisen korrekterweise das alte Notkühlsystem, das massgeblich in solchen Gebäuden einbaut ist, als ausgefallen betrachtet. Es steht dann nur noch das später nachgerüstete, erdbebenfeste Notstandsystem „SUSAN“ als sogenannter Abfahrpfad zur Verfügung. In Verletzung des Konzepts der gestaffelten Sicherheitsvorsorge basieren zudem auch die Massnahmen für den absoluten Notfall (sog. Accident Management) auf Einrichtungen (z.B. das Hochreservoir), die nicht erdbebenfest sind.
Der EU Stresstest mit seinen lästigen Testaufgaben geriet dem AKW Mühleberg ziemlich in die Quere: es musste nämlich unter anderem untersucht werden, was passiert, wenn (wie in Fukushima) die primäre Möglichkeit zur Kühlung verloren geht. Mit der korrekten Darstellung, dass bei Erdbeben nur ein einziger Abfahrpfad vorhanden ist, hätte das AKW Mühleberg ziemlich genau so alt ausgesehen, wie es eben auch ist.
Lösung: man „vergass“ kurzerhand die Gebäude, die nicht erdbebenfest sind!
Das AKW Mühleberg „vergass“ in seinem Bericht ganz einfach diese Gebäude aufzulisten und deren Erdbebenfestigkeit zu berücksichtigen. So konnte man das darin eingebaute alte Notkühlsystem wiederbeleben, so tun, als funktioniere es im Erdbebenfall und im Stresstest eine recht gute Falle machen.
Das ENSI deckt den Betreiber
Das ENSI hatte die Aufgabe, die Berichte der Betreiber zu prüfen und in einem nationalen Report zusammenzufassen. Zwar macht das ENSI dort einleitend einige Vorbemerkungen zur fehlenden Erdbebenqualifizierung beim AKW Mühleberg. Aber das ist längst vergessen, wenn es dann um die konkrete Beurteilung der seismischen Robustheit inkl. „vergessene“ Gebäude geht. Das ENSI schreibt schelmisch:
Insofar as is explicitly reported, the safety trains of all the Swiss nuclear power plants have safety margins against seismic hazard level H2.
[Quelle: EU Stress Test: Swiss National Report, Seite 22, Hervorhebung nicht im Original]Insofern, wie ausdrücklich darüber berichtet wird, weisen die Abfahrpfade aller Schweizer AKW Sicherheitsmargen gegenüber der Erdbebengefährdung H2 aus.
[eigene Übersetzung]
Das ist im Kontext der nuklearen Vorsorge schlicht unglaublich. Im ganzen Rest des EU Stresstests tut das ENSI dann so, als hätte das alte Notkühlsystem als Abfahrpfad tatsächlich die entsprechende seismische Festigkeit und könne bei den entsprechenden Einzelstresstests angerechnet werden. Auch die resultierende, falsche Sicherheitsmarge wird nicht kritisiert. Schliesslich wird verschwiegen, dass Accident Management Einrichtungen (z.B. das Hochreservoir) nicht erdbebenfest sind.
Das ENSI hat somit die falschen Angaben des AKW Mühleberg wissentlich an die Experten des EU Stresstest weitergereicht (die ihrerseits natürlich mit den lokalen Gegebenheiten nicht vertrauten waren). Entsprechend ungültig sind dadurch auch jegliche Rückmeldungen dieser Experten. Dies wird auch aus Äusserungen in Berichten sichtbar, etwa wenn diese plötzlich von einer diversitären Wärmesenke („diversified heat sink“) beim AKW Mühleberg sprechen, die es schlicht nicht gibt (eine solche sollte dann ja erst nachgerüstet werden… bzw. dann doch nicht).
Das ENSI konnte sich somit elegant der Frage entziehen, warum es als Aufsichtsbehörde jahrzehntelang ein solch defizitäres AKW tolerierte, nota bene in der dicht bevölkerten und angeblich sicherheitsbewussten Schweiz.
Vertiefung, Details und alle Belege im separaten Artikel dazu→
Beteiligung der Bevölkerung?
Beim EU Stresstest gab es dann die Möglichkeit für die Bevölkerung, sich zu beteiligen. Ich schöpfte damals Hoffnung, diese Machenschaften aufdecken zu können, sendete meine Fragen ein und nahm dank Greenpeace-Unterstützung an zwei Konferenzen in Brüssel teil.
Am Schluss stellte sich das Ganze als reiner PR Gag heraus. Meine Fragen wurden nicht etwa von den übernationalen Experten-Teams in Luxemburg beurteilt, sondern unbesehen und postwendend ans ENSI geschickt. Selbstverständlich habe ich vom ENSI nie irgend eine Antwort darauf bekommen. Das nennt sich dann „Public Engagement“.
Immerhin, die Medien haben Teilfragen aufgenommen, nur scheint sich heute niemand mehr daran zu erinnern:
- SonntagsZeitung: „AKW Mühleberg erhält Bestnoten – ohne Prüfung“→
- Der Sonntag: „Amtlich bewilligte Trickserei bei AKW-Erdbebensicherheit“→
Der EU Stresstest Experte, der wirklich dabei war
Trotz aller Widrigkeiten wurden gewisse Mängel dann offenbar doch bei den EU Stresstest Experten sichtbar. Es wurde festgestellt, dass von sämtlichen AKWs Europas inkl. Ukraine einzig beim tschechischen AKW Dukovany sowie beim AKW Mühleberg eine Alternative zur sogenannte Ultimativen Wärmesenke fehlt. Ein Mitglied des entsprechenden EU Stresstest-Teams, ungarischer Kernenergieprofessor, hat sich—mutmasslich gerade weil ihm die Kernenergie am Herzen lag—derart über die unsäglichen Defizite dieser beiden AKW-Schlusslichter enerviert, dass er bereit war, mit den Medien darüber zu sprechen. Aber ich will hier nicht allzu sehr ausschweifen, bitte lesen Sie den vielsagenden Artikel dazu→
Lediglich das hierzu relevante Fazit aus dem Interview sei wiedergegeben:
Im Schweizer Bericht wurde das Defizit in Mühleberg erwähnt. Dennoch erklärte das EU-Expertenteam, das den Bericht überprüft hatte, der Schutz gegen den Verlust der Wärmesenke sei in der Schweiz «herausragend». Ein Schulterklopfen unter Kollegen?
In den folgenden Sätzen des Expertenberichts wird das Fehlen einer alternativen Wärmesenke in Mühleberg erwähnt. Wenn man alles liest, ist es korrekt.Die Schweizer Nuklearaufsicht zitierte in ihrer Pressemitteilung aber nur den lobenden Satz.
Um es höflich zu sagen: Das war wohl nicht optimal. Aber ich denke, der Schweizer Länderbericht war korrekt, der Fall Mühleberg wurde erwähnt.
Damit ist doch—wenn auch zu höflich—alles zu unserem Thema gesagt.
Haben die AKW der Schweiz also „hervorragen abgeschnitten“, stehen sie „im europäischen Vergleich sehr, sehr gut da“? Oder sind es gar „die sichersten Kernkraftwerke der Welt“?
Mitnichten. Durchgefallen im Faktencheck.
*) Dank an retropower.ch für die Recherchehilfe beim Zitat.
Artikel um 12:35 leicht korrigiert.
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