Unregelmässigkeiten beim EU Stresstest Report des AKW Mühleberg

Rückblick vom Mai 2012:

Foto: Baustelle AKW Mühleberg am 21.8.1968, Staatsarchiv Bern, N.P. Böhm 14

Verfügung des EU Stresstests

Am 1. Juni 2011 hat das ENSI die Verfügungen zur Teilnahme am EU Stresstest erlassen. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass der EU Stresstest mittlerweile als integrierter Teil der Schweizer Überprüfungen nach Fukushima angesehen wird.

Die Untersuchungen der Schweiz und der EU ergänzen sich

[…]

Bei anderen Szenarien wie z.B. lang andauernder Verlust der Stromversorgung sowie bei der detaillierten Betrachtung von Notfallschutzmassnahmen unter schwierigen äusseren Bedingungen – wie nach einem starken Erdbeben – ergänzt der EU-Stresstest die laufenden Untersuchungen des ENSI.

[Quelle: Das ENSI erlässt die Verfügungen zum EU-Stresstest]

In der Verfügung selber, wird die Schweizerische Rechtsgrundlage genannt:

3. Entscheid

Gemäss den Erwägungen unter Punkt 2 verfügt das ENSI gestützt auf Art. 36 Abs. 3 KEV die gezielte Neubewertung der Sicherheitsmargen des Kernkraftwerks Mühleberg im Rahmen der EU Stresstests.

[Quelle: Verfügung: Neubewertung der Sicherheitsmargen des Kernkraftwerks Mühleberg im Rahmen der EU-Stresstests, Seite 4]

Daher untersteht das Verfahren selbstverständlich der Schweizerischen Gesetzgebung.

Veröffentlichung der EU Stresstest Berichte

Erst am 10. Januar 2012, als Schlusslicht Europas, hat das ENSI den Länder- und die Anlagenberichte des EU Stresstests veröffentlicht (warum diese Verzögerung relevant ist, sei später ausgeführt).

Teil der Veröffentlichung ist der „EU Stress Test Kernkraftwerk Mühleberg“ (AN-BM-2011/121).

Dieser Report beinhaltet Unregelmässigkeiten, die hier anhand des gravierendsten Beispiels erklärt und belegt werden. Dazu muss jedoch einführend die sicherheitstechnische Geschichte des KKM in Grundzügen definiert werden (Quellen siehe weiter unten).

Sicherheitstechnische Geschichte des AKW Mühleberg

1972 wurde das AKW Mühleberg (KKM) in Betrieb genommen. Wegen Vorbehalten zur Tauglichkeit der Kernnotkühlung (ECCS) wurde der Betrieb nur halbjährlich, später jährlich befristet bewilligt.

Erst 1992 erhielt das KKM, geknüpft an die Nachrüstung eines neuen Notstandssystems SUSAN, die heute gültige Betriebsbewilligung.

Nur die Sicherheitsstränge des nachgerüsteten Notstandssystems sind gegen externe Ereignisse wie Erdbeben und Hochwasser qualifiziert und entsprechend sicherheitstechnisch klassiert.

Diverse Gebäude und Systeme der alten Stränge verfehlten hingegen im Vorfeld die Erdbeben-Requalifizierung. Dies halten sowohl das Bewilligungsgutachten, wie auch die Stellungnahmen zur Periodischen Sicherheitsüberprüfungen (PSÜ) 2002 und 2007 klar und deutlich fest.

Kritik an der Erdbebenqualifikation von Sicherheitssystemen und Gebäuden

Seit zwanzig Jahren bemängelten Kritiker, dass massgebliche Sicherheitssysteme ausschliesslich den alten, nicht erdbebenfesten Versorgungssträngen zugeordnet, oder selber nicht erdbebenfest sind. Etwa das Kernsprühsystem (Corespray, CS), das „Vergiftungssystem“ (zum Stoppen der Kettenreaktion, falls die Schnellabschaltung versagt), der Kaltkondensatspeicher (mit dem primären Notkühlwasservorrat für die Hochdruckeinspeisesysteme), um nur drei von 15 (!) sicherheitstechnisch klassierten Systemen zu nennen.

Die folgende Tabelle listet die Sicherheitssysteme des KKM und deren SSE-Qualifikation auf:

Auch bei dem Gebäuden sieht die Situation nicht besser aus. Gravierendstes Beispiel: der Kontrollraum bzw. überhaupt alle Aufenthaltsräume des Personals liegen in Gebäuden, welche offiziell die SSE-Erdbebenqualifikation verfehlt haben bzw. gar keine aufweisen. Bei einem Auslegungserdbeben müsste man davon ausgehen, dass die ganze Mannschaft ausfällt. Dabei ist anzumerken, dass das KKM über keine automatisch bei Erdbeben ausgelöste Schnellabschaltung verfügt (siehe Aktionsplan ENSI Punkt OP2-1, Seite 30).

Quellen:

Fukushima / EU Stresstest

Zwanzig Jahre lang versicherten Betreiber, Aufsicht und Bewilligungsbehörden, all die obengenannten Defizite seien kein Problem. Stellvertretend sei hier der Entscheid des Bundesrates vom 14. Dezember 1992 zur Betriebsbewilligung des AKW Mühleberg genannt (Kapitel 4).

Dann geschahen die Ereignisse in Fukushima. Dann kam der EU Stresstest. Es schien, als wollten BKW und ENSI plötzlich nicht mehr mit denselben Argumenten in Brüssel antreten.

Ganze Gebäude unterschlagen

Die BKW erweckte kurzerhand die alten Sicherheitsstränge wieder zum Leben und erklärte sie als erdbebenqualifiziert. Dieser erstaunliche Vorgang konnte jedoch nicht ohne gravierende Unregelmässigkeiten abgewickelt werden.

Im EU Stress Test Kernkraftwerk Mühleberg (AN-BM-2011/121) auf Seite 56 schreibt die BKW:

Die Systeme werden zu den sog. Abfahrpfaden zugewiesen. Ein Abfahrpfad besteht aus Systemen, die beim Störfall Erdbeben, ausgehend vom jeweiligen Betriebszustand, die Einhaltung der Sicherheitsfunktionen gewährleistet.

Danach werden zwei Abfahrpfade definiert. Als Abfahrpfad 1 werden die „neuen“ SUSAN-Stränge bezeichnet:

Beim Abfahrpfad 1 wird die Nachzerfallswärmeabfuhr über das Toruskühlsystem (TCS) und die Bespeisung des RDB mit dem Alternativen Niederdruckeinspeisesystem (ALPS) gewährleistet.

Als Abfahrpfad 2 werden die alten Stränge bezeichnet (vgl. mit Tabelle 3.3-1, oben):

Der Abfahrpfad 2 berücksichfigt die Nachzerfallswärmeabfuhr über das Abfahr- und Toruskühlsystem (STCS) und die Bespeisung des RDB mit Kernsprühsystem (CSS). Bei der Festlegung der Abfahrpfade wurden Einzelfehler als Ausfall eines gesamten Stranges eines Systems berücksichtigt.

Weiter wird auf Seite 59 festgehalten:

Die Bauwerke, deren Versagen die Funktionsfähigkeit der Systeme beinträchtigen könnte, werden ebenfalls in die Abfahrpfade aufgenommen.

Danach folgen zwei Tabellen mit Gebäuden und Ausrüstungen und deren Erdbebenfestigkeiten. Die zweite Tabelle (Tabelle 15: Abfahrpfad 2, d.h. alte Sicherheitsstränge) wird auf Seite 61 aufgeführt:

Dabei wird für den Kenner der Anlage sofort ersichtlich: sowohl das Maschinenhaus, als auch das Pumpenhaus fehlen (das Aufbereitungsgebäude will ich hier gar nicht erwähnen).

Zur Anschauung sei aus der Aktennotiz Deterministischer Nachweis zur Beherrschung des 10’000-jährlichen Hochwassers vom 30.06.2011 (AN-UM-2011/062), Seite 11 die folgende Abbildung angeführt:

Abbildung: Kühlkreis der alten Stränge (Haupt- und Hilfskühlwassersystem). Am Hilfskühlwassersystem sind auch die Sicherheitssysteme zugeordnet. Quelle: BKW.

Das Maschinenhaus beherbergt den Notstrom-Dieselgenerator dieser Stränge, Kühlwasserleitungen, Druckerhöhungspumpen etc. Das Pumpenhaus enthält die Kühlwasserfassung, Pumpen, Siebbandmaschinen, etc. Ohne diese Ausrüstung funktionieren die alten Sicherheitsstränge selbstverständlich gar nicht.

Beide Gebäude haben die Erdbebenqualifizierung in allen bisherigen Sicherheitsberichten verfehlt (siehe Tab. 6-1-2 oben). Es ist folglich anzunehmen, dass die darin enthaltenen Sicherheitsausrüstung im Erdbebenfall nicht zur Verfügung steht (vgl. oben Tabelle 3.3-1, letzte Spalte).

Wenn diese Gebäude bei einem Sicherheitsbericht unterschlagen werden, bedeutet dies folglich eine gravierende Verletzung von Pflichten des Bewilligungsinhabers nach Art. 22 und Art. 88 des Kernenergiegesetzes.

Was sagt das ENSI dazu?

Es ist nach Art. 72, Abs. 1 des Kernenergiegesetzes die Aufgabe der Aufsichtsbehörde,  darüber zu wachen, „dass die Inhaber von Bewilligungen und von nuklearen Gütern ihre Pflichten nach diesem Gesetz einhalten“.

Das ENSI beaufsichtigt das KKM seit 40 Jahren, es hat das Bewilligungsgutachten 1991, sowie zwei sicherheitstechnische Stellungnahmen zu den Periodischen Sicherheitsüberprüfungen 2000 und 2005 verfasst. Es sollte die Gebäude und deren Einrichtungen kennen.

Der Unterschlagung durch die BKW begegnet das Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat mit folgender Aussage:

Insofar as is explicitly reported, the safety trains of all the Swiss nuclear power plants have safety margins against seismic hazard level H2.
[Quelle: EU Stress Test: Swiss National Report, Seite 22, Hervorhebung nicht im Original]

Insofern, wie ausdrücklich darüber berichtet wird, weisen die Abfahrpfade aller Schweizer AKW Sicherheitsmargen gegenüber der Erdbebengefährdung H2 aus.
[eigene Übersetzung]

Es ist schwierig nüchterne Worte für diesen Vorgang zu finden. Ich überlasse dies dem Leser.

Auswirkungen

Bei allen nachfolgenden Diskussionen und Schlussfolgerungen des EU Stresstests wird die Erdbebenfestigkeit der alten Sicherheitsstränge vom ENSI einfach als gegeben angenommen. Sowohl bei den Erdbebenanalysen selber, als auch bei andernen Tests.

Die Stresstests mit dem schrittweisen Verlust von Stromversorgung (Station Blackout, SBO), Verlust der ultimativen Wärmesenke (UHS) und Kombinationen davon waren in der EU Stresstest-Spezifikation und ENSI-Verfügung (Spezifikation Seite 4) klar definiert:

b) Consequence of loss of safety functions from any initiating event conceivable at the
plant site

  • Loss of electrical power, includlng station black out (SBO)
  • Loss of the ultimate heat sink (UHS)
  • Combination of both

Es sollte also „jedes am Standort denkbare auslösende Ereignis“ für den Verluste dieser Sicherheitsfunktionen angenommen werden, sicherlich auch ein Erdbeben. Zur Erinnerung: zu diesem Zweck hat man die EU Stresstests vor dem Hintergrund von Fukushima überhaupt erst gestartet. Genau in diesen Punkten sieht das ENSI den EU Stresstest offiziell als Ergänzung zu den Schweizer Überprüfungen (siehe Zitat am Anfang dieses Artikels).

Diese wichtigen Punkte des EU Stresstest wurden aber im Falle des AKW Mühleberg unter der vollen Verfügbarkeit der alten Stränge und sogar weiterer, nicht erdbebenfester Einrichtungen, etwa dem Hochreservoir, dem Kaltkondensatbehälter (KAKO), der neuen Einspeisestelle für mobile Feuerwehrpumpen diskutiert und beurteilt.

Schlussfolgerungen des ENSI

Am Schluss verkündet das ENSI auf der Homepage:

EU-Stresstest bestätigt Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke

 


Auf Anfrage stelle ich eine ausführlich (aber informell) kommentierte Fassung des „EU Stress Test Kernkraftwerk Mühleberg“ (AN-BM-2011/121) zur Verfügung.

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