Der Bund: AKW-Abschaltung 2019 ist «rechtlich nicht verbindlich»

Der Bund: AKW-Abschaltung 2019 ist «rechtlich nicht verbindlich»

Der Bund berichtet im Artikel „Der Bund: AKW-Abschaltung 2019 ist «rechtlich nicht verbindlich»“ über die Absichtserklärung der BKW. Von Simon Thönen.

Laut Bundesrätin Doris Leuthard könnte die BKW die Stilllegung des AKW Mühleberg auch widerrufen.

Ist die Ankündigung der BKW, das AKW Mühleberg 2019 abzuschalten, rechtlich verbindlich? Dies wollte Nationalrätin Nadine Masshardt (SP) in der Fragestunde des Nationalrats wissen. Nein, lautet die schriftliche Antwort von Energieministerin Doris Leuthard (CVP). Es handle sich um einen «unternehmerischen Entscheid» der Betreiberin. «Dieser Entscheid ist somit rechtlich nicht verbindlich und die BKW AG kann grundsätzlich darauf zurückkommen.»

So weit so klar. Diese Aussage bestätigt diesbezügliche Warnungen. Aber was unternimmt man nun?

Die Landesregierung sehe auch «keine Veranlassung», die Abschaltung 2019 rechtlich verbindlich zu machen, «so lange die Sicherheit gewährleistet ist».

Gibt es wirklich keine Veranlassung?

Was das Gesetz sagt

Um diese Frage zu klären, kann ein Blick in die „Grundsätze für die Nutzung von Kernenergie“ helfen. Das Gesetz schreibt ein zweistufiges Sicherheitskonzept vor:

3 Im Sinne der Vorsorge sind alle Vorkehren zu treffen, die:

a. nach der Erfahrung und dem Stand von Wissenschaft und Technik notwendig sind;

b. zu einer weiteren Verminderung der Gefährdung beitragen, soweit sie angemessen sind.

Die vom ENSI für den Langzeitbetrieb verlangten Nachrüstungen basieren auf der zweiten Rechtsgrundlage (b).

Aber was heisst „soweit sie angemessen sind„?

Es werden zunächst Risikoberechnungen angestellt. Man vergleicht das Risiko einer Kernschmelze bzw. einer grossen Freisetzung radioaktiver Stoffe mit Grenzwerten aus den internationalen und nationalen Vorschriften [ENSI-Richtlinie A06, Probabilistische Sicherheitsanalyse (PSA): Anwendungen, Kap. 6.1].

AKW offiziell „baufällig“

Beim AKW Mühleberg hat man festgestellt, dass Nachrüstungen nach beiden Kriterien angezeigt sind. Das AKW ist also offiziell und in zweifacher Hinsicht „baufällig“.

Auf der anderen Seite kommen die Kosten der Nachrüstung ins Spiel. Die BKW hat offenbar festgestellt, dass diese mehrere Hundert Millionen Franken betragen würden. Der Nachholbedarf in Sachen Sicherheit ist ja auch immens.

Somit sind Risiko und Kosten bestimmt. Was noch fehlt ist die zeitliche Dimension. Das Risiko tickt mit der Zeit und summiert sich auf. Auf der anderen Seite müssen die Nachrüstkosten mit der Zeit abgestottert werden. Die Frage der Verhältnismässigkeit entscheidet sich folglich an der Dauer des Weiterbetriebs.

Wenn die Betreiberin diese Dauer nun „optimiert“, kommt die geneigte Aufsichtbehörde offenbar zum Schluss, dass die teuren Nachrüstungen nicht verhältnismässig seien:

Im Hinblick auf die eingeschränkte Restlaufzeit stellt sich die Frage, ob die ursprüngliche Nachrüstforderung nach wie vor gerechtfertigt ist und inwieweit auf deren Umsetzung verzichtet werden kann.

Die ursprünglichen Nachrüstforderungen wurden in allen massgeblichen Punkten fallen gelassen (wir kommen darauf zurück). Stattdessen werden bekanntlich „Blachen-Lösungen“ verhandelt.

Wenn es in einem Haus durchs Dach regnet, das Sie bald abreissen, dann können Sie es mit einer Blache abdecken, BKW-Präsident Urs Gasche

Perpetuum Mobile gefunden

Was passiert nun 2019 (also nach den kantonalen und eidgenössischen Abstimmungen zur Laufzeitbegrenzung), wenn die BKW die Stilllegung widerruft?

Gar nichts.

Verhältnismässigkeit hat kein Gedächtnis. Haben wir die Zeit bis 2019 mit gut Glück schadlos überstanden, wird der Risikozähler auf Null zurückgestellt. Das Risiko wird quasi auf dem Buckel der Anwohner laufend abgeschrieben.

Das Spiel darf dann von Gesetzes wegen wieder von vorne losgehen und das ENSI wird bei wiederum sorgfältig optimierter Absichtserklärung für eine Restlaufzeit wieder zum gleichen Ergebnis kommen (müssen): eine Nachrüstung wäre nicht verhältnismässig.

Salamitaktik

Damit hat die BKW mit viel behördlicher Unterstützung das Perpetuum Mobile für ihr AKW gefunden. Auch die anderen AKW-Betreiber dürften sich ob dieser äusserst eleganten Salamitaktik begeistert die Hände reiben.

Keine Auflagen nach 2019

In der Antwort des Bundesrates wird dieser Zusammenhang schliesslich mit einer Fehlaussage kaschiert:

Allerdings hat die BKW AG in diesem Fall die Auflagen des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorates gemäss seiner Verfügung zum Langzeitbetrieb des Kernkraftwerks Mühleberg vom 21. Dezember 2012 zu erfüllen.

Es gibt keine Verfügung vom 21. Dezember 2012. Das ENSI selber schreibt, dass es auf eine formelle Verfügung verzichtet hatte:

Verfügung durch hängiges Verfahren verzögert

Am 21. Dezember 2012 hatte das ENSI zum Langzeitbetriebsnachweis des Kernkraftwerks Mühleberg Stellung genommen und verschiedene Massnahmen für einen unbefristeten Langzeitbetrieb gefordert. Da damals noch ein Verfahren vor Bundesgericht zur Befristung des KKW-Betriebs hängig war, verzichtete das ENSI auf eine formelle Verfügung seiner Forderungen. Ende März 2013 hob das Bundesgericht die Befristung der Betriebsbewilligung auf.

Die Forderungen sind auch bereits offiziell Makulatur. Die Verfügung vom 14. November 2013 nimmt die massgeblichen Nachrüstforderungen aus der Stellungnahme ausdrücklich zurück:

5. Das KKM hat für den Betrieb über das Jahr 2017 hinaus bis zum 30. Juni 2014 aufzuzeigen, wie es auch ohne Umsetzung der im Instandhaltungskonzept vom 23. Dezember 2011 beschriebenen Stabilisierungsmassnahmen für den Kernmantel, einen unter Berücksichtigung der verbleibenden Betriebsdauer ausreichenden Sicherheitsgewinn erzielen kann.

[…]

14. Das KKM hat für den Betrieb über das Jahr 2017 hinaus bis zum 30. Juni 2014 aufzuzeigen, wie es auch ohne Realisierung der zusätzlichen, erdbebenfesten und überflutungssicheren, von der Aare unabhängigen Kühlwasserversorgung, einen unter Berücksichtigung der verbleiben-den Betriebsdauer ausreichenden Sicherheitsgewinn erzielen kann.

15. Das KKM hat für den Betrieb über das Jahr 2017 hinaus bis zum 30. Juni 2014 aufzuzeigen, wie es auch ohne Realisierung eines erdbebenfesten und überflutungssicheren Brennelementbecken-Kühlsystems, einen unter Berücksichtigung der verbleibenden Betriebsdauer ausreichenden Sicherheitsgewinn erzielen kann.

[…]

18. Das KKM hat für den Betrieb über das Jahr 2017 hinaus bis zum 30. Juni 2014 aufzuzeigen, wie es auch ohne Realisierung eines zusätzlichen Nachwärmeabfuhrsystems [Anm.: betrifft Minus-11-Meter Ebene], einen unter Berücksichtigung der verbleibenden Betriebsdauer ausreichenden Sicherheitsgewinn erzielen kann.

[Hervorhebungen hinzugefügt]

Damit sind sämtliche wichtigen Nachrüstforderungen rechtlich vom Tisch. Man fängt nach zweieinhalb Jahren wieder bei Null an.

Entspricht dies dem Gesetz?

Der Gesetzgeber hätte für diesen Fall die Befristung der Betriebsbewilligung vorgesehen. Das ENSI könnte der BKW als Voraussetzung für zurückgenommene Nachrüstforderungen auferlegen, es habe seine Bewilligung beim UVEK auf das Jahr 2019 zu befristen.

Nach Ansicht des ENSI hat jedoch das Bundesgericht mit seinem Urteil vom 28.3.2013 diese Möglichkeit ausgeschlossen. Es schreibt:

Das Bundesgericht hielt unter anderem fest, es sei durch die laufende Aufsicht zu gewährleisten, dass die Sicherheit während der ganzen Laufzeit gewährleistet bleibe und gegebenenfalls durch nachträgliche Nachrüstungen verbessert werde. Für die Anordnung von Nachrüstungen ist im Rahmen der laufenden Aufsicht das ENSI zuständig.

Das Pepetuum Mobile mit laufender Aufsicht—sprich: laufender Abschreibung des Risikos zu Lasten der Anwohner—ist somit komplett.

Bundesgericht

„Gut“ Schweizerische Traditionen

Was wird nun weiter passieren?

Die kantonale Initiative „Mühleberg vom Netz“ oder die „Volksinitiative für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie“ wird angenommen und der Schrecken hat ein Ende. Und sonst?

Geht es nach der geschichtlichen Erfahrung, wird das ENSI die Forderungen erst nach dem nächsten grossen AKW-Unfall durchsetzen. So ging es damals nach Three Mile Island (1979). Unter dem öffentlichen Druck wurden Nachrüstungen zunächst verlangt. Danach wurden diese über Jahre zerredet, zusammengestrichen und schliesslich schubladisiert. Erst nach Tschernobyl (1986) wurde endlich umgesetzt, was von den Projekten übrig geblieben war. Der Stand der Technik Nuklearer Sicherheit (Projektierungsregeln/Auslegungskriterien) wurde dabei ganz bewusst beiseite geschoben. [Quelle: Roland Naegelin, Geschichte der Sicherheitsaufsicht über die schweizerischen Kernanlagen 1960-2003; Projekte „SUSAN“ bei Mühleberg, „NANO“ bei Beznau]

Wenn keine politischen Riegel vorgeschoben werden, ist anzunehmen, dass sich die Geschichte wiederholen wird. Bleibt also die bange Frage, wo der nächste grosse AKW-Unfall passiert. Wir hätten da zum Beispiel das älteste AKW der Welt (Beznau) oder eines der unsichersten Europas (Mühleberg).

Es wäre übrigens auch nicht das erste Mal.

Das einzige bisher in der Schweiz stillgelegte AKW wurde per Super-GAU ausser Betrieb gesetzt, nachdem die Aufsichtsbehörden fehlerhafte Brennelemente trotz Durchschmelzen im Testreaktor und trotz erkannter Explosionsgefahr durchgewinkt hatten. Die Ausrede erschöpfte sich nach zehn Jahren Untersuchung darin, die Brennelemente seien nicht aus genau dem Grund explodiert, sondern aus einem anderen. Die Anwohner entkamen nur darum einer grösseren Freisetzung radioaktiver Stoffe, weil das AKW in einer Felskaverne untergebracht und zudem sehr leistungsschwach war.

[Quelle: Wildi, Tobias. Der Traum vom eigenen Reaktor. die schweizerische Atomtechnologieentwicklung 1945-1969 Tobias Wildi. Chronos (2003), S. 249ff.]

Beilage 15 Überreste Spaltstoffelemente Pos. 59, Schlussbericht über den Zwischenfall im Versuchs- Atomkraftwerk Lucens Am 21. Januar 1969 Juni

Quelle: Beilage 15 Überreste Spaltstoffelement Pos. 59, Schlussbericht über den Zwischenfall im Versuchs-Atomkraftwerk Lucens am 21. Januar 1969, Juni 1979

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